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[heft 11] [juni 2015] wien - st. wolfgang



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Nirosta unter der Mondlaterne
Notate 30. Kalenderwoche 2015

Peter Hodina


Der möglicherweise erdähnliche "Kepler-452b" als "eventuelles Refugium"?, wie jemand voreilig meinte. 1400 Lichtjahre sind aber doch noch ein recht weites Stück, wenn man bedenkt, dass der Pluto von der Erde nicht ganz viereinhalb Lichtstunden erst entfernt ist. Das würde eine lange Reise...

Es ereignet sich dir zu wenig? Oder du bist dir zu wenig? Dann sieh auf den Pluto: Dein Vorkommen – selbst schon so, wie du bist – dort draußen wäre die größte Sensation. Der Saturn ist zwar ungemein schön, aber er denkt nicht direkt. Und so gehe weiter vor. Von Monden zu Planeten, von Planeten zu Sonnen, zu Kometen, zu Sternennebeln. Es ist leicht, als denkendes und empfindendes Wesen unter den Himmelskörpern etwas durchaus Spektakuläres zu sein. Sich hingegen nur mit anderen Menschen zu vergleichen, ist oft Quelle des Missbehagens und Unglücks. Akosmische Festgefahrenheiten.

"... entdeckt Eis auf dem Pluto ... entdeckt dreitausend Meter hohe Berge auf ihm ... Nebel schon ..." – Und dann kommt aus dem einen auffälligen Kraterloch plötzlich ein riesiges Fühlerpaar hervor, von dem einzigen, sich selbstidentitär reproduzierenden blauschwarz glänzenden Rüsselkäfer, der den Zwergplaneten zur Stätte für sein einsam-perennierendes Treiben sich erkor. Curculio tautologicum Plutonis.
Und da er nur ein EINZIGER ist, gewinnt er auch die Wahlen mit diktatorialen 100 Prozent. Oder er bliebe daheim im Kraterloch, dann herrschte Akratie. Also immer er selbst – in Ferdinand Ebnerscher "Ich-Einsamkeit"! Auch das Auszählen der einen Stimme erfolgt raschstens. Demokratie, Monarchie, Tyrannis und Anarchie in einem, ein und demselben.
Genderproblematische Partner(innen?)? entfallen. Feindschaften entfallen (außer der Selbstfeindschaft, mit der er sich womöglich seine Zeit vertreibt, die er womöglich zu hoher Dialektik entwickelt: mit Erleuchtungs-Aussetzern). Und er würde den Planeten in- und auswendig kennen, ein Virtuose der Bekraxelung und des Hineinschliefens, dann wieder alternierend mit Faulpelzphasen (wäre er nicht etwa als pelzig zu denken?) Ein "Vollempiriker", wie ich das nenne. Hätte er mal Sehnsucht nach mehr? Nach dem "Ganz Anderen" des Herbert Marcuse? Reichte seine Sehnsuchtsphantasie so weit? Er dürfte ein nüchtern mit seinen paar Gottesgaben haushaltender Käfer sein. Oder ist er ein Verdammter? Räudig-trostlos den Staub seines eigenen DDT hinausblasend, gegen das er längst immun geworden wäre? Oder leckt und kämmt er sich? Wäre er eitel – für wen aber?

Der Mond ist der Pluto des kleinen Mannes.

Es soeben ausgerechnet, was ich – es über den Daumen peilend – immer schon vermutet hatte: Ein Fußmarsch geradenwegs zum Mond, bei täglich zurückgelegten und zumutbaren 30 Kilometern, würde ca. 35 Jahre dauern. In einem durchschnittlichen Leben ginge sich für einen wacker ausschreitenden, dabei rüstig bleibenden, dieses sein einziges Lebensziel nie aus den Augen verlierenden Wanderer ziemlich genau der Marsch zum Mond hin und zurück aus. Das Maß für ein Leben durchschnittlicher Lebenserwartung ist etwa ein Fußrausch, äh.. ich meinte Fußmarsch von der Erde zum Mond und zurück. Wann immer ich den Mond sehe, muss ich daran denken. Er gemahnt sowohl an unser Potential als auch an unsere Grenzen. Wäre ich zielstrebiger gewesen, hätte ich schon lange auf dem Mond mein Jausenpaket verzehren können bzw. müssen, ja befände mich bereits auf der Rückreise. Toll müsste es sein, auf der Rückreise immer wieder schweißabwischend hinter sich zu blicken und den Mond noch lange ganz riesig und nah bei sich zu wissen – als jederzeit noch einem wieder erreichbares Eigentum! Im Bewusstsein des schon errungenen, auf die Erde heimzuholenden "Gipfelsieges"... Und wenn um 1900 aufgebrochen: die Erde im Pferdekutschenzeitalter verlassend und ins Atomzeitalter, welch letzteres einem selber nicht nötig, ja auch nicht erfindbar gewesen wäre, zurückkommend, während man selber immer nur ein technisch wenigwandelbarer "Wandervogel", ein Simpel, aber Weltstreckenüberwinder blieb, der einfach halt, endorphinebeglückt marschierend und die alten Lieder vor sich hin pfeifend, durch Muskelbildungen und Knochenabnutzungen ALTERTE... Überwölbt von der Wanderlaterne des Mondes! Vielleicht durch Übung gar noch zu einem "Schnellfüßler" werdend, tibetisch zu einem "Lung-Gom-Pa", einem TRANCELÄUFER, der riesige Strecken überwindet, ohne sich auszuruhen.
Und dann kommst unten an und keiner will es glauben, keiner sich dafür interessieren, dass du auf dem Mond warst und sogar Steine von dort oben mitgebracht hast; sie schauen sich die Steine gar nicht weiter an und stecken dich ins Irrenhaus! Die Steine werden dir weggenommen.

Es wäre eine Probe auf unser Bildungswesen, wenn etwa Artaud selbst bei einer Prüfung über Artaud durchfiele. Seine letzte Prüfung sah jedenfalls so aus: "Am 4. März 1948 wurde Antonin Artaud in sitzender Haltung im Bett mit einem Schuh in der Hand tot aufgefunden." (Wikipedia)

Ein Dementer z.B. steht vor dem Problem, die Prüfung über sich nicht mehr ablegen zu können. Nach seinem Geburtsdatum gefragt, wird die Leitung immer länger, bis sie einmal gerissen ist. Ignaz Hennetmair, ohne damals im geringsten dement zu sein, konnte sich an den Inhalt seines Erlebnis-Buches zu Thomas Bernhard nicht mehr erinnern: "Ich habe es ja aufgeschrieben, DAMIT ich mich nicht mehr erinnern muss." Es gibt auch immer noch weiter produktive Autoren, die längst die Übersicht über ihr Werk verloren haben. "Was, das habe ich einmal geschrieben?" Und sie könnten die literaturwissenschaftliche Prüfung über sich selbst nur mit viel Improvisationsglück ablegen, schützte sie nicht der Nimbus der Autorschaft.

Jedes Gegenüber veranlasst mich, es zu porträtieren, statt ihm zu widersprechen. MIR muss ich widersprechen, MICH muss ich korrigieren, um es einzufangen, hervorzuholen, ihm gerecht zu werden. Wohin wird diese aufnehmende, dabei durchaus auch aktive Passivität noch führen? Die Menschen hinnehmend, wie sie sind, bei gleichzeitigem Protest gegen das Substantiv "Hinnahme" als "Wert".

AUCH ein Ansatz: "Der Mensch weiß oft nicht, woher ihm seine Gedanken kommen, es fällt ihm etwas ein; es wandelt ihn eine Sehnsucht, eine Bangigkeit oder Lust an, von der er sich keine Rechenschaft zu geben vermag; es drängt ihn eine Macht zu handeln oder es mahnt ihn eine Stimme davon ab, ohne dass er sich eines eignen Grundes bewusst ist. Das sind Anwandlungen von Geistern, die in ihn hineindenken, in ihn hineinhandeln von einem andern Mittelpunkte aus, als seinem eignen." (Gustav Theodor Fechner, 'Das Büchlein vom Leben nach dem Tode')
Die Frage hierbei, was mit "Geistern" gemeint ist. Es mag beim "Wilden Denken" und vor allem auch beim schizophrenen, manchesmal sogar glücklich-psychotischen Denken und unter Exorzisten vorkommen, für die Anwandlungen seines Inneren keine oder nicht die ganze Verantwortung und Urheberschaft übernehmen, sie nicht approbieren zu wollen. Manches, was sich einem innerlich – durchaus mit Gewalt und einseitiger Verbindlichkeit – aufdrängt, ist ja der Niederschlag realer äußerer Bedrängnisse und Vorstellungen anderer: wir seien der und der und nicht etwa ein anderer: nicht der je unsrige, sondern der Ihrige, wurde und wird uns eingehämmert, und diese perpetuierlichen Hammerschläge gegen unsere Kopfweckerschelle hallen lange hirn- und eigensinnbetäubend nach. Es sind demnach "Geister" und mehr noch UNGEISTER, die, wie Fechner zutreffend sagt, in einen "hineindenken, hineinhandeln von einem andern Mittelpunkte aus, als seinem eignen".

Vom Ideen-All. Sternhaufen von einander beeinflussenden Geistern, Zentralgestirne, Rote Riesen, umnebelte Genies, Doppelsterne, trabantenumtanzte, massive, verkrustete, kraterzernarbte, tote, gasförmige, belebte Planeten, weiters trotzige Kometen (Befruchter?), Schwarze Löcher. Immer mit beträchtlicher "Nacht" dazwischen, viele kannten einander nicht.

Eine gewisse Form von Edelstahl-Geländer wird immer mehr zur Verschandelungsgefahr von Städten und Landschaften. Und zwar überall schon. Man möchte gar nicht mehr hinschauen, so schwächt das. Mit dem kalten Charme von Metzger-Apparaten. Man kann auch mit Wegweisern und Verbotsschildern für alles und jedes schon ein Ortsbild ungemein schwächen. So auch mit diesen Edelstahl-Geländern. Und es soll auch noch der "Verschönerung" dienen, alte schmiedeeiserne, etwas verbogene Geländer durch dieses andere Ewigblitzende und bis zur Sterilität Ewigsaubere, das nie durch Benutzung sich alternd anschmiegt, zu ersetzen. Es sind ästhetische Attentate auf die kontrastierende, magisch-eigencharakterliche KRAFT der Altstädte und Landschaften: Zivilisierung als Ermüdung, Abmattung. Die Modernisierung der Bahnhöfe hat das schon vorgemacht.



© beim autor

hodina, peter
geboren 1963 in salzburg. veröffentlichte zahlreiche beiträge in literaturzeitschriften, anthologien, im hörfunk und im internet. vorträge im in- und ausland über thomas bernhard, witold gombrowicz, bertolt brecht, ludwig hohl, jean améry, pawel florenski, ferdinand ebner. preisträger beim 6. harder literaturwettbewerb 2000. rauriser förderungspreis 2004. seit 2007 mitglied der grazer autorinnen autorenversammlung (gav).

publikationen auswahl
steine und bausteine 1, berlin 2009. (avinus verlag)
steine und bausteine 2, berlin 2010. (avinus verlag)
sternschnuppen über hyrkanien, st. wolfgang 2012. (edition art science)
steine und bausteine 3, berlin 2014. (avinus verlag)

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