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litera[r]t
[heft 2] [märz 2011] wien - st. wolfgang



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Sturm
Aïscha Bouabaci | übersetzt von christine belakhdar


Wenn sich die knospenden Astspitzen
Der den Winter überdauerten Bäume
Wenn sich flüchtige Visionen
In der gebrochenen Iris
Schwereloser Zeichendeuter festsetzen,
Wenn getarnte Signale
Eines getriebenen Heute
Das Ende vom Gestern ankündigen,
vom Grün gelöste,
umzingelte,
dem Erdengesang
geweihte
Signaturen.

Zwinkert die Sonne
Den in jahrtausendaltem Gold verhüllten
Sandkörnern zu
Wenn die
schwerfälligen Schritte
der antiquierten Passanten knirschen
Geht am
Morgen
Kein Wind
Und der Adler der Wege
Ergreift
Beim Anblick des Lichtes
die Hand des einsamen Denkers.

Wenn die Kamele Schritt für Schritt
Den Kamm der Geschichten
aufbegehrter Vergangenheit
Erklimmen
Schlagen die Moula-Moula-Vögel
Aus Wasser und Stein ihre jungen Flügel
Um für immer davonzufliegen
Streift der Schatten besorgter Palmenblätter
Über unbekannte Gesichter
Jungfräuliche
Ihrer Namen beraubter
Und in stummen Gebeten
Verkapselte Masken.

Wenn in der Ferne
Der jähzornige Guebli
Über den vergessenen
Gräbern raunt
Und um ihre Geheimnisse gewundene
Sandspiralen
Einer von niemandem verehrten
Welt aufwirbelt
Und wenn der Vorhang des Lebens
Sich sanft in entzweite Reigen
Gleitet
Bringen die dem Mond erbotenen Gesänge
Die alten Erinnerungen
Zum Erklingen.

Werde ich diese befremdende
Silhouette mit den störrischen Knoten nicht vergessen
Untereinander verquickte
Sprache aus Feuer und Sprache aus Wahrheit
Um den Anwesenden aller Zeiten zu sagen
Seht her ich widersetze mich noch immer
Verlasset eure Wege
Mögen sich eure Zungen lösen
Um den alten eingeschlossenen Barden
Die Stunde der
Fortsetzung all der verlorenen Wortgefechte
zu verkünden.

Sprach die Seele der roten ksour,
dieser hochmütigen Rebellen,
Nimmer mehr wird es Treffen geben
Unter ihren Schutzwällen
Dem Blick verborgen
Unter falschem Namen
Mögen sich die Abende erschöpfen
Die Morgengrauen weichen
Um die Qacida zu singen
Von dem der sich weder Vater noch Mutter
Noch des zersprengten Alphabets seines Namens
Erinnert.

Singen die jungen Meddahs
Moderne Minnesänger
Mit gewandten Fingern
Die dem Bauch der Gimbri
Freimütig zusetzen
Hommage an das Leben
Kehre ich eines Tages in die Sahara zurück
All dieser Gesichter wegen
Bar jeder Falschheit
Und mich am kräftigen Duft des Minztees zu berauschen
Und der Süße der Deglat Ennour
Und für immer zu bleiben.



bouabaci, aïcha
wurde 1945, in einer mehr als einmaligen historischen zeit geboren: der 2. weltkrieg war zu ende und in verschiedenen kolonisierten ländern, so in ihrer algerischen heimat, begannen sich befreiungsbewegungen zu formieren. daher die neigung zu ernsten themen. geboren aber auch zwischen meer und wüste, daher ihre neigung zur stille und zur suche nach wahrheit, zu weiträumigkeit und zur angst vor grenzen.
von den vielen exilen, die die autorin nicht minder im lande ihrer vor-väter (er)lebte, zeugen nahezu all ihre schriften, von entfremdenden, quälenden oder befreienden exilen, von faden, schweren oder leicht zu ertragenden, von tragischen oder verheißungsvollen exilen.
2006 erhielt sie für ihr gesamtwerk den französischen ritterorden für kunst und literatur.
die autorin lebt und arbeitet in kehl, deutschland.

belakhdar, christine
geboren 1957, lebte nach dem romanistikstudium elf jahre in algerien.
sie ist seit 1994 wieder in berlin, schreibt artikel über algerien, arbeitet als literaturübersetzerin aus dem französischen und kulturvermittlerin. 2007 gründete sie den deutsch-algerischen kulturverein yedd e.v., der algerischen schriftstellern, malern und journalisten aus ihrer wahlheimat im deutschsprachigen raum eine plattform bietet. ihre leidenschaft gehört der fotografie, teilnahme an ausstellungen.

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