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Rote Linien : Eins
Wir leben (nicht)!

Der Mann muss auch seinem König und Richter, wenn dieser Unrecht tut, Widerstand leisten.
Sachsenspiegel, 1220

I.

Etwas stimmt nicht (mehr). Etwas ist aus dem Lot geraten. Etwas ist aus dem Ruder gelaufen.

Es ist da ein großes, globales Unbehagen in der Kultur der sogenannten Nachmoderne: Moderne Begriff wie Entfremdung und Entzauberung sowie Beschleunigung und Entgrenzung, aber auch solche wie Multioptotions- und multikultureller Gesellschaft, Erlebnis- und Spektakelgesellschaft, Wissens- und Risikogesellschaft sind vor allem als (theoretische) Versuche zu lesen, das begreiflich machen, was an uns und mit uns, was in uns und um uns nicht (mehr) stimmt – was in unserer (modernen) Kultur der Präsenz, der Präsentation und der Metaphysik des Momentanen aus dem Lot geraten ist, was in unserer Welt aus dem Ruder gelaufen ist und läuft.

Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert.
Richard Senett

Unsere Welt der Moderne (Nachmoderne? Zweite Moderne? Übermoderne?) ist einerseits weltweit erfüllt und immerzu ausgefüllt von digitalen Revolutionen der Disruption, von algorithmischen Visionen eines neues Menschen sowie von totalitären Vorstellungen eines virtuellen Edens, auf Erden und andererseits jedoch geradezu alltäglich erfahr- und wahrnehmbar als eine vereinsamende, traurig-tragischen Welt, trostlos bevölkert von mannigfach erschöpften Selbst-Ichs, (in) einer offensichtlich mehr und mehr gestresst-verhetzten Gesellschaft, die sich einem propagandistischen Dogma fundamentalistisch unterworfen hat, nämlich und ausschließlich:

Mehr! (Ich will mehr!) Mehr!

Wir leben als Ich, als vermeintliche Einheit, alltäglich in den Niemandsländern des Ungenügens, in den Grauzonen und Zwischenzonen des Unbehagens sowie in den Transiträumen des Unheils, den dunklen Territorien der Triebe sowie des bunt gefeierten Treibens.

Es scheint keine Dialoge, keine Grenzen mehr zu geben. Hauptsache man schlägt auch noch das kleinste bisschen an Vorteil heraus und fühlt sich kurz mächtig.
Olga Neuwirth

All diese Welten sind keine terra incognita, aber sie sind (und bleiben) einerseits befremdlich leer, hohl sowie unbestimmt, sind andererseits aber zugleich gefüllt von und gesättigt mit (allzu) menschlicher Unruhe und kulturellem Unbehagen.

Der Streit um die freie Rede ist – zumindest hier und heute – vorbei. Es beginnt jener um die Grenzen des Sagbaren, um Wahrheit und Lüge. Peter Huemer

All dies zeugt von den tiefen Rissen, welche unsere Gegenwart (als Zeit) und zugleich die offenen Räumen unserer modernen (westlichen) Gesellschaften ausmachen und welche sich auch mehr und mehr in und zwischen uns eintiefen wie ausufernde Serien des Mariannengrabens, während um uns zeitgleich eine Mauer nach der anderen aufgezogen wird.


Und jetzt Corona : Die Krise!? Die Katastrophe!? Die Apokalypse!?


II.

Wir leben in einer Welt, vor der wir uns mehr und mehr fürchten (sollten), lesen wir.
Wir leben in einer Welt, welche mehr und mehr unverständlich, ja unkenntlich geworden ist, lesen wir.
Wir leben in einer Welt, in der nichts mehr sicher ist, lesen wir: Nicht unsre Demokratie, nicht unsere Umwelt, nicht unsere Freiheit! Nichts!

Mehr als zehn Jahr nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise hören wir von der Politik, welche im weitesten Sinn anhaltend (selbst)beschäftigt ist, nichts anders denn:
Weiter so wie bisher … die Richtung stimmt … Fortsetzung, denn es gibt keine Alternative!
Mehr als zehn Jahr nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise wissen wir immer noch nicht, wie uns geschieht und was zu tun ist – nur eines macht sich allgemein breit und breiter, verschafft sich wütend und wüst Öffentlichkeit: Angst!
Mehr als zehn Jahr nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise radikalisieren sich alle sozialen Konflikte, alle ökonomischen Krisen und ökologischen Katastrophen – und unsere Medien, insbesondere die sogenannt Neuen Medien, sie tragen zum weltweiten so notwendigen gesellschaftlichen Diskurs vor allem eines bei: (Algorithmische) A-Sozialität!

Wir erleben Unruhe, Gereiztheit, Wut, auch Verstörtheit über die permanente Grenzverletzung im öffentlichen Raum. Und letztlich die Verschlechterung des Kommunikationsklima.
Bernard Pörksen

Gestern zählte, so der bürgerliche Wertekanon, allein das (materiell) Erreichte, also die sogenannte Leistung. Heute reicht allemal eine (buntgemischte) Eigen-Erzählung, das sogenannte Narratives bedeutet: Fiktion und Fake News anstatt Fakten, Information(smassen) anstatt Kommunikation(sräumen), (entzweiendes) Gefühlsgeschwurbel anstatt (einigender)Vernunft … und morgen?
Gestern gab es – wenn auch in der Praxis marginal – noch so etwas wie eine politische, also eine ideologische Botschaft. Heute gibt es nicht einmal mehr eine Message, diese aber wird umso mehr mit allen medialen und sonstigen Mitteln – koste es was es wolle – kontrolliert … und morgen?

Alles und alle werden dem allmächtig-kapitalistischen Prinzip des Marketings unterworfen – und wie selbstverständlich auch die sogenannten (bürgerlichen) humanistischen Werte, die an einem Tag rhetorisch beschworen und am nächsten Tag bereits wieder als unzeitgemäß verworfen werden (wie eine gebrauchte Ware) .


Und jetzt Corona : Der Ausbruch!? Der Umbruch!? Der Zusammenbruch!?


III.

Sukzessive verschieben sich die roten Linien in der veröffentlichten Debatte zwischen Humanität und Zynismus.
Barbara Toth

Wir leben in einer Zeit des zunehmenden Nichts, sind alltäglich ausgesetzt einer Welt der (algorithmischen) Blasen, des (gefühlig-gefällig) Hypertrophen und der (belanglosest-bunten) Beliebig(losig) keiten, die wir uns in unsren schlimmsten Alpträumen niemals hatten vorstellen können (und wollen) – alles stürzt alltags(lebens)weltlich auf uns wie ein nicht enden-wollender, medial-digitaler Tsunami, in der Soziologie spricht man begriff- und begreiflicherweise von einem alltäglichen Informationsschock: Raum und Zeit, Ursache und Wirkung, Verantwortung und Vernunft scheinen in einer immerwährenden Immanenz von Gegenwart (voll von wilden Spekulationen, trügerischen Investitionen und zynischen Scharlatanerien) aufgehoben – alles fließt ineinander sowie zugleich aneinander vorbei in die wuchernde Leere des A-Historischen, A-Politischen sowie A-Sozialen.

Alltäglich und allgegenwärtig werden Rote Linien – ehemals ethische sowie soziale und politische Grenzen – gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Lebens überschritten:
Was gestern noch Argument war, ist heute bloß eine (alternative) Meinung unter anderen und vielen und morgen nur noch eine Netzwerk aus Hatespeeches und Shitstorms:
Was gestern noch Fakt war, ist heute reine Fiktion und morgen millionenfach geteilter Fake (News).
Was gestern noch Freiheit war, ist heute eine Gefahr und Risiko und morgen bereits nicht mehr der Rede (und des Wertes) wert.

Was gestern noch Wahrheit war, ist heute ein Gemengelage von propagandistischer Lüge, zynischer Täuschungen und menschenverachtenden Betrügereien und morgen nur noch eine von vielen Verschwörungen von vorvorgestern.
Über allem liegt gegenwärtig eine schmerzliche Grauzone von Unverbindlichkeit und Empfindungslosigkeit, von Gleichgültigkeit und Ignoranz, von Mitleidlosigkeit und Arroganz, wir leben in einer Art von kaltem und öden Niemandsland, in dem allzu viele nicht mehr wissen, welche Zeichen wie zu setzen sind – und vor allem nicht mehr wissen, wie man diese liest.
Es ist als ob es kein gesichertes Wissen mehr gäbe, als ob es keine geteilten Werte, keine allgemeinen Bindungen und keine wirksame Vernunft mehr gäbe.
Alles ist sozusagen grundsätzlich und überhaupt in Widerruf und Verruf geraten!

Ein Wort (und vermeintlicher Wert) wurde zum zur Kenntlichkeit entstellten Signum unserer macbethschen Epoche – gleichsam als totalitärer Schlachtruf unserer ach so humanistischen und bürgerlich-liberalen Zeit:

Sicherheit! Sicherheit! Sicherheit!

Zugleich und zeitgleich sind und bleiben unser aller vielfältigen Lebenswelten und Kulturweisen derart von so vielen Seiten (neo)reaktionärer, (neo)faschistischer und (neo)liberaler Art global bedroht wie niemals zuvor in der Geschichte, sodass wir es kaum in Worte zu fassen und noch weniger all diese Bewegungen, Kräfte und Prozesse zu verstehen vermögen, es raubt uns fast den Atem – ja unser gesamtes Leben, gleichsam alles ist alltäglichen Gefährdungen sowie anhaltend-unberechenbaren Gefahren ausgesetzt:

Unsere Demokratie, unsere Umwelt, unsere Freiheit! Einfach alles!


Und jetzt Corona : Ein Faktum!? Eine Mahnung!? Ein Zeichen!?


Alle schreien heute nach Gesundheit, aber was wir meinen und was tatsächlich gemacht wird, das meint und bedeutet nichts anderes denn:

Sicherheit! Sicherheit! Sicherheit!

Armin [Anders] | Raimund [Bahr]


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