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Die Witterung der Kirschblüten

Es war ein Tag im Frühling, als er begann, seine Wege abzuschreiten. Jeden Tag zur gleichen Stunde. Was ihm begegenete als Mensch, veränderte täglich sein Antlitz. Was ihm begegnete als Landschaft, glich sich zu jeder Stunde. Die Häuser und Gehöfte gaben nichts preis, was nicht für Publikum bestimmt war. Jedoch an einem sonnigen Frühsommertag, der Regen prasselte auf seinen Hut, enthüllte sich ein Haus in besonderer Weise. Eines das hügelabwärts lag, dem er sich immer von Norden her näherte. Das erste, was aus dem diffusen Licht hervortrat, war eine Holzhütte, von der Straße einsehbar, am entferntesten Punkt des Anwesens. Darin ein Schatten. Er nahm ihn zur Kenntnis und ging seines Weges.

Tags darauf erblickte er den Kirschbaum, der sich durch die leuchtenden Früchte vom Hintergrund abhob. Am dritten Tag nahm er das Haus wahr, das an der Holzhütte und dem Kirschbaum hing. Und so ging es weiter. Tag für Tag entdeckte er ein Stück von allem. Und irgendwann, am Rande zu den ersten Sommertagen, schälte sich aus dem Schatten, der durch den Garten des Anwesens streunte, eine Frau ungewissen Alters. Doch in diesen ersten lauen Sommertagen blieb er auf seinem Pfad und die Frau hing an ihrem Garten. Das erste Mal, dass sich sein Gehen und ihr Dasein kreuzten, fand in einer Tropennacht statt, in der sein Körper erhitzt vom Schlaf nach Erleichterung trachtete und sich in seinen Träumen die Frau von ihrem Garten löste, Sprache, Alter und Wesen annnahm und ihre Unlesbarkeit verlor.

Bereits am nächsten Tag verspürte der Mann eine naturwidrige Leichtigkeit, als er auf das Anwesen zuströmte. Er wagte einen Blick in seine Geräumigkeit und ließ sich dennoch nicht verleiten, inne zu halten, zu rufen, zu fragen sich dem Traum, der sich in ihm aufgetan hatte, hinzugeben. So verging die Zeit und der Sommer ohne ein Wort, ohne eine Geste und es blieb ihm nur eine unbändige Zuversicht, die ihn in den Herbst trug, in die Stunden, da die Föhnstürme übers Land zogen und die noch nicht ausgereiften Früchte von den Buchen und Eichen zerrten.

Und an einem dieser letzten, warmen Tage, bevor der Winter ins Land einzog, stand der Krischbaum ohne Laub, die Holzhütte war verschlossen und das Anwesen leer. Tag für Tag hoffte er, die Frau sei nur erkrankt und würde alsbald ihr Tagwerk wieder aufnehmen. Doch von Spaziergang zu Spaziergang wurde das Licht der Tage diffuser, der Garten blieb verwaist. Die Welt zog sich in die Gehöfte zurück, die Wiesen leerten sich und die Tiere wurden im Stall geborgen.

Eines Tages, der Nebel fiel wie ein düsteres Vorzeichen aus dem Himmel und breitete sich über die Landschaft wie ein dunkler Schleier, hatte der Mann zu seinem gewohnten Strom der Beständigkeit zurückgefunden. Er war längst vorbei am Garten, in dem vermutlich noch ein Kirschbaum stand und aus dem ein Wispern wie ein Echo dem Mann hinterherlief, an ihm vorbei und vorauseilte und in weiter Ferne verklang.

Der Mann hielt einer Erinneung nachspürend inne, lauschte und wandte sich um, mehr noch, kehrte um, nahm ein Stück des Weges in die Richtung, aus der er gekommen war. Das Wispern schwoll zu einem Flüstern an. Das Flüstern kam zur Sprache. Und mit jedem Abschnitt des Weges, den er in umgekehrter Richtung zurücklegte, verwandelte sich die Sprache in einen Körper, aus dem eine Frau hervortrat, die am Zaun des Anwesens lehnte, in dem ein Krischbaum stand und eine Holzhütte zu erahnen war.

Die Frau fragte ihn: Sind sie der Spaziergänger?
Kann sein, antwortete der Mann.
Meine Schwester sprach viel von Ihnen in ihren letzten Tagen.

Und so erfuhr der Mann, dass die Hüterin des Anwesens, des Gartens und des Kirschbaumes ihn ebenso gesehen hatte, wie er sie und ebenso gezögert hatte, ihn anzusprechen, wie er gezögert hatte, sie anzusprechen. Und er wurde an jedem Tag der folgenden Tage in ihr Leben eingeführt als wär es ein Bericht, der in tausend Nächten zu erzählen wäre. Und jeden Tag verweilte er länger am Gartenzaun, selbst während der kältesten Winterstürme erwartete die Schwester ihn, in der sich eine Frau mit Geschichte abzeichnete. Und so kam es, dass Frühling wurde und das Leben ihn ergriff und er die Witterung der Kirschblüten in sich aufnahm.

Raimund [Bahr]


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