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Die erfundenen Verwandten

Dichter sind meistens 'eigentlich' etwas anderes, sie sind versetzte Maler oder Graphiker oder Bildhauer oder Architekten oder was weiß ich, meinte Thomas Mann in seiner berühmten Rede zur Einführung in seinen Roman Der Zauberberg vor Studentinnen und Studenten der Universität Princeton. Er selbst zählte sich zu den Musikern unter den Dichtern und wies in seiner Rede auf den Einfluss Richard Wagners und der Leitmotivtechnik beim Entwerfen seines Romans hin. Schon vor Der Zauberberg hatte Thomas Mann in Tonio Kröger versucht, die klassische Sonatenform Haydns und Mozarts für die Literatur fruchtbar zu machen. Aber auch in den kleinsten Bausteinen des Erzählens hatte er komponiert. Gustav Aschenbach, der Name des Protagonisten von Der Tod in Venedig, setzt sich aus dem Vornamen von Gustav Mahler und dem leicht veränderten Nachnamen des dem Schriftsteller bekannten Malers Achenbach zusammen. Aus Achenbach wurde unter Hinzusetzung eines einzigen Buchstabens Aschenbach, um schon von Beginn die Todesthematik der Novelle anklingen zu lassen. Und von Gustav Mahler lieh sich Thomas Mann nicht nur den Vornamen, sondern auch die Physiognomie. Er hatte beim Verfassen der Novelle ein Foto des Komponisten zu Hilfe genommen, das damals zusammen mit der Todesnachricht von Mahler in der Zeitung publiziert worden war.

Ich weiß nicht, wie die anderen Schriftsteller zu den Namensgebungen ihrer Helden kommen. Dass ich die alexandrinische Kunst von Thomas Manns sehr schätze, habe ich schon in einem anderen Essay erwähnt. Peter Handke hat den Protagonisten seines Buches Der Chinese des Schmerzes nach einem Berg in den österreichischen Alpen benannt. Er weist in seiner Erzählung sogar darauf hin. Banal halte ich hingegen die Vorgehensweise, wenn man auf die Etymologie von Namen zurückgreift und sie gemäß dem Charakter der Figuren auswählt, zum Beispiel eine weibliche Person von lauterem Wesen Katharina tauft, weil die ursprüngliche Bedeutung vom griechischen katharós "rein" ist. Ich glaube, es gibt nicht wenige Autoren, die in dieser Weise mit Vornamen-Lexika arbeiten. Ich selbst hatte einmal in einer Kurzgeschichte der Hauptfigur einfach den Namen Ernst gegeben, weil es sich um einen seriösen jungen Mann handelte. Auf Dauer erwies sich dies jedoch als keine mich begeisternde Methode. Noch ideenärmer ist es, wenn die Autoren das Telefonbuch aufschlagen, um nach einem passenden Namen zu suchen.

Den Winter 2009/10 verbrachte ich in Seoul. Ich wohnte damals mit meiner koreanischen Freundin in einem Apartment-Hotel im Stadtteil Chungmuro. Meine Freundin arbeitete für die Mercator-Stiftung und verließ wochentags nach dem Frühstück zeitig die Wohnung. Ihr Büro befand sich im Goethe-Institut, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Stadtberges befand, auf dessen Fuß im Osten unser Apartment lag. Ich litt an einer Schreibblockade, wollte aber die Zeit in Korea nicht völlig nutzlos verstreichen lassen. Ich erinnerte mich an ein Diktum des Lektors von F. Scott Fitzgerald, als der amerikanische Schriftsteller sich in einer ähnlichen Krise befand wie ich. Maxwell Perkins forderte Fitzgerald mit den Worten auf: Dann schreiben sie, warum sie nicht schreiben können!

Ich entschloss mich, nicht nur das Porträt eines Schriftstellers zu verfassen, sondern auch den Versuch zu wagen, meine Vorstellung von Poetik zu Papier zu bringen. Ich erfand nicht, sondern erzählte von mir selbst. Das Schriftsteller-Ich in dieser Geschichte kreiert eine Figur, über die sie gerne schreiben möchte. Jedoch bleiben die Vorstellungen von Handlung, obwohl ihm seine Schöpfung zunächst lebendig wird, vage. Ich zitiere aus meiner Erzählung Der Schriftsteller.


Der Name Paul Albeseder, den ich mir schon vor zwei oder drei Jahren einmal zusammengereimt habe, scheint mir für das geplante Buch ideal zu sein. Den Vornamen Paul habe ich bereits zweimal in Kurzgeschichten verwendet, er hat sich gewissermaßen bewährt, und Albeseder rundet für mich die Figur nun in gelungener Weise ab, vervollständigt diese zu hundert Prozent.


Albeseder ist der Mädchenname meiner Urgroßmutter väterlicherseits. Ich wusste damals und weiß bis heute nur wenig von den Albeseders. Abgesehen von Sonntagsmalereien in Wasserfarben eines Vorfahren dieses Geschlechts, die im Wohnzimmer meiner Eltern hängen, sind keine Erinnerungsstücke überliefert worden. Jedoch verwendete ich zum ersten Mal einen Nachnamen aus meiner Verwandtschaft. Paul Albeseder eignete sich noch aus anderen Gründen für den Namen eines Alter Egos. Lasse ich meinen zweiten Vornamen weg, haben wir die gleichen Initialen PA, und Peter und Paul werden wegen des gleichen Namenstages auch gerne in einem Atemzug genannt.

Ich kam damals mit dieser Kreation trotzdem nicht recht weit. Wie vorhin erwähnt, schrieb ich – Perkins‘ Ratschlag an Fitzgerald folgend – darüber, warum ich nicht schreiben konnte. Im letzten Absatz der Erzählung muss das Schriftsteller-Ich erfahren:


Paul Albeseder ist gestorben. Ich spüre nichts mehr, wenn ich an diese Figur denke. Meine Vorstellungskraft ist vollkommen versiegt, und dies erzeugt in mir so etwas wie Hass.


Ein paar Jahre später ließ ich Paul Albeseder wieder auferstehen und machte aus ihm den alleinigen Helden meiner Kurzgeschichte Morbus Meulengracht. Der von mir erfundene Verwandte hat ein Eigenleben angenommen.

Ich gehe chronologisch weiter und komme zu meinem 2017 erschienenen Roman Der zweite Blick und seinem Protagonisten, Oskar von Adlerhuld. Dieses Mal bediente ich mich bei den adeligen Vorfahren meiner Großmutter mütterlicherseits. War die Wahl Albeseder vielleicht noch eine Spielerei – wenn auch eine bewusste – gewesen, schien sich nun, indem ich mir erneut meine eigene Verwandtschaft schuf, ein System zu etablieren. Adlerhuld passte auch vortrefflich zu der Don-Juan-Figur, die mir vorschwebte. Auf der Suche nach geeigneter Beute dreht mein Protagonist, gleich einem Raubvogel in den Lüften kreisend, jagdlustig seine täglichen Runden durch die Gassen seiner Heimatstadt. In seiner Einführung zu meinem Buch im Oktober 2017 in der Aula der Universitätsbibliothek Salzburg sprach der Kommunikationswissenschaftler Erich Hamberger zum vorläufigen Ende meines Protagonisten in einem Kurhotel in Bad Reichenhall, wo sich Adlerhuld von seinen amourösen Eskapaden körperlich und geistig erschöpft zurückgezogen hatte, treffenderweise auch vom Flügelgestutzten.

Dem Roman stellte ich folgendes Zitat von Stendhal voran: Sollte es eine Wirkung des Schamgefühls sein oder ihrer tödlichen Langeweile, dass die meisten Frauen nichts so sehr am Manne schätzen als die Frechheit? Oder halten sie die Frechheit für Charakter? Bezugnehmend auf diese Worte des französischen Schriftstellers und der allgemein bekannten Redewendung frech wie Oskar beziehungsweise dem deutschen Autor Oscar A. H. Schmitz und seinem Buch über erotische Charaktere gedenkend, fiel die Wahl des Vornamens auf Oskar.

Die Figur eines Romans ist mehr oder weniger immer auch ein Teil seines Schöpfers. Auch wenn ich in diesem Fall keine Selbstzeugnisse schreibe, ist sie mir nahe. Warum dann nicht diese Seelenverwandtschaft auf die Basis von Vererbung stellen, aus dem Bruder des Geistes einen Cousin gleichen Blutes machen? Bei einem verwandtschaftlichen Verhältnis kommen die Erbanlagen ins Spiel. So sieht Oskar von Adlerhuld seine Frauenfängerei nicht nur in seiner Erziehung, sondern auch in seiner DNA begründet.


Die Aristokratie ist von alters her für den rüden Umgang mit ihren Kindern beziehungsweise für ihre oft spartanischen Erziehungsmaßnahmen bekannt, und da die Satyriasis zumindest auch vom Großvater und Vater Adlerhulds verbürgt ist, lässt sich vielleicht von einer Art Vererbung sprechen.


Möglicherweise tue ich mit diesen Zeilen meinen eigenen Ahnen unrecht. Paul Albeseder oder Oskar von Adlerhuld könnten aber unter uns weilen. Der Absatz, in dem erzählt wird, warum die Adlerhulds in den Adelstand gehoben worden sind, ist jedoch – wenn ich in dem Punkt strikt bei den Tatsachen bleiben möchte – die Geschichte anderer Vorfahren mütterlicherseits, noch entfernterer Verwandte von mir, den Oklopsias von Kukburg. Einen Georg Oklopsia von Kukburg habe ich jedoch erst 2020 zum Helden einer Kurzgeschichte gemacht. Was mir die Frage eines Lesers eingebracht hat, wie ich denn auf so einen schwierigen Namen käme und ob ich nicht lieber einen anderen für meine Geschichte verwenden möchte? Mittlerweile hat sich aber diese meine Art der Protagonistentaufe so verfestigt, dass ich nicht gerne davon abrücke.

Von den Oklopsias von Kukburg gibt es Nachfahren, die in Tschechien wohnen. Ich habe aber keine Kenntnis davon, ob noch Albeseders oder Adlerhulds existieren, die uns nahestehen.

Zum Abschluss möchte ich noch ein paar Worte zu Jakob Waltz aus meinem Roman Das Andere anführen. Walz, ohne T, ist der Mädchenname meiner Großmutter väterlicherseits. Mitglieder dieser Familie leben noch heute in Salzburg und Bad Gastein. Es hat sogar einmal einen Jakob Walz gegeben. Er war mein Ururgroßvater. Er erlag dem Goldrausch und verließ über Nacht Frau und Kinder, um nach Amerika aufzubrechen. Mein Vater fand einmal seinen Namen in einem Goldgräberbuch. Es könnte sich aber auch um einen anderen Jakob Walz gehandelt haben. Seine Spur verlor sich. Die Verwandtschaft hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

Meine Hauptfigur aus Das Andere trennt sich von seiner Familie in nicht so tragischer Weise, flüchtet aber auch eines Tages von Frankfurt aus in die Ferne. Er kehrt jedoch immer wieder nach Deutschland und Österreich zurück und findet daheim sogar Gold, wenn auch in gänzlich anderer Weise, als jemand, der danach schürft. Als ich die Nachnamen meiner Ahnen durchforschte, wurde mir schnell klar, dass mein Protagonist den Namen Jakob Wal(t)z tragen muss. Ich fügte das T aus mehreren Gründen hinzu: 1. Existieren noch immer Walz in unmittelbarer Nähe zu meiner Wohnstätte, 2. Hat es einen Jakob Walz tatsächlich einmal gegeben, ich schreibe aber nicht über ihn, noch dazu spielt mein Roman in der Jetztzeit, 3. Erinnerte ich mich an den weltweit berühmten Schauspieler Christoph Waltz, das T brachte einen Touch von Internationalität in den Namen.

Dass Wal(t)z keine schlechte Wahl war, bestätigten mir nach der Veröffentlichung des Romans auch zwei Rückmeldungen von fachkundigen Menschen. Die Germanistin Silvia Bengesser-Scharinger vom Literaturarchiv Salzburg meinte in einem persönlichen Gespräch mit mir, dass der Name passe, weil sich mein herumreisender Held quasi auf der Walz befinde. Und der Philosoph Florian Salzberger verweist in seiner Rezension auf die Anekdote mit der verlorengegangenen Spieluhr in meinem Buch, auf die Sehnsucht meiner Hauptfigur nach einem neuen Lied, einer neuen Walze auf der Spieluhr seiner Kindheit.

Für eine Kurzgeschichte, die ich heuer oder spätestens nächstes Jahr in Japan schreiben möchte, habe ich mir wieder einen Namen aus meiner Ahnenreihe ausgewählt. Dieses Mal aus einer Linie, die bis Frankreich reicht. Ob ich jemals den Namen Altmann verwenden werde? Vielleicht etwas abgewandelt: Altmannshausen, im Sinne der Feldzüge und lustigen Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen.

Peter Simon [Altmann]


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