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Ein Versuch über das Kaffeehaus

Es begann, wie es immer begonnen hatte, er saß im Kaffeehaus, trank Tee, las und schrieb. Das heißt, er saß in Wirklichkeit nicht im Kaffeehaus, es gab ja gewissermaßen gar keine Kaffeehäuser, er stellte sich nur vor, in einem zu sitzen, Tee zu trinken, zu lesen und zu schreiben. Er schrieb aber auf, dass er im Kaffeehaus saß, Tee trank, las und schrieb, und damit war es dann sozusagen Wirklichkeit, dass er im Kaffeehaus saß, Tee trank, las und schrieb, zumindest war es nicht weniger wirklich als er selbst, der er doch auch nur etwas Geschriebenes war.

Ich schreibe er, damit man das Geschriebene für Literatur hält. Schriebe ich ich, verwechselte man mich wohl leichter mit mir. Gewiss, auch ihn könnte man mit mir verwechseln, aber vielleicht nicht so leicht, denn über ihn kann ich manches schreiben, was ihn als jemand anderen als mich erscheinen lässt, was ich aber über mich oder vielmehr den, den ich jeweils ich nenne, nicht schreiben kann, weil man mich sonst erst recht für mich statt für ihn hielte. So oder so, auch ich bin, wenn ich über mich schreibe, nur ein Geschriebener.

Ich saß also im Kaffeehaus, trank Tee, las und schrieb. Oder ich stellte mir zumindest vor, im Kaffeehaus zu sein, Tee zu trinken, zu lesen und zu schreiben. Zumindest habe ich das geschrieben.

Wenn ich aus irgendeinem Grund schon zu lange nicht in einem Kaffeehaus war, stelle ich mir zuweilen vor, in einem Kaffeehaus zu sein. In einem, in dem ich schon einmal war, oder einem, das ich zu diesem Zweck erfinde. Manchmal geht das eine mit dem anderen eine Verbindung ein.

Er stellte sich vor, in dem Kaffeehaus neben den königlichen Gärten in Venedig zu sitzen, Tee und frisch gepressten Orangensaft zu trinken, zu schreiben und zu lesen. Er genoss die Erinnerung an das schöne, recht neue und vom winterlichen Tageslicht angenehm erhellte Kaffeehaus, durch dessen bodentiefe Fenster man auf das Markus-Becken sehen konnte, wobei einem leider der schwimmende Anleger des Dampfbötchens und ein paar Verkaufshütten den Blick auf die Georgsinsel und das Alte Zollgebäude verstellten. Er stellte sich vor, dass der Blick nicht verstellt würde und frei über das glitzernde Wasser der Lagune schweifen könnte. Er genoss diese Vorstellung. Aber auch so war es schön gewesen, erinnerte er sich, dort zu sitzen, Tee und frisch gepressten Orangensaft zu trinken, zu lesen und zu schreiben.

Ich sitze nicht im Kaffeehaus und so weiter und so fort, ich stelle es mir bloß vor und schreibe darüber. Ich schreibe oft über Kaffeehäuser. Wahrscheinlich sogar zu viel. In dem, was ich bisher so alles geschrieben habe, sitzt immer mal wieder jemand im Kaffeehaus, oft Tee trinkend, lesend und schreibend. Immer mal wieder. Geradezu zwanghaft. Als wären für mich Literatur und Kaffeehaus eine feste Verbindung eingegangen. Immer schon. Fast alle Einfälle zu Romanen, die ich dann nicht oder nicht zu Ende geschrieben habe, hatte ich in Kaffeehäusern. Ich bin ein Kaffeehausliterat.

Er war ein Kaffeehausliterat. Er schrieb, wenn er schrieb, im Kaffeehaus. Sagte er. Mehr, als dass er schrieb, redete er freilich bloß darüber, dass er schreiben werde. Oder was andere geschrieben hätten oder schreiben hätten sollen. Er ging ins Kaffeehaus um der Literatur willen. Um zu schreiben und nicht zu schreiben, vor allem aber, um zu reden. Oft las er auch im Kaffeehaus, Zeitungen sowieso, vor allem die sogenannten Feuilletons, die heutzutage oft mit Kultur überschrieben waren und von Kino, Fernsehen und Internet berichteten, sämtlich Literaturbeilagen, die noch existierten, und alle einschlägigen Zeitschriften, sofern sie greifbar waren, was selten der Fall war. Zu Hause las er nur Bücher. Bücher las er auch im Kaffeehaus, aber oft kam er nicht zum Lesen, weil er mit jemandem redete. Nicht nur über Literatur, aber vorzugsweise über Literatur. Literatur und Kaffeehaus, das gehörte für ihn zusammen. Ob es solche Kaffeehausliteraten wirklich noch gab?

Ich gehe nie ins Kaffeehaus, um Kaffee zu trinken. Ich trinke nicht gern Kaffee. Ich bin ein Teetrinker. Ich gehe selten ins Kaffeehaus, um nicht zu lesen und nicht zu schreiben. Wenn ich ins Kaffeehaus gehe, habe ich fast immer etwas zum Lesen und zum Schreiben dabei.

Das Kaffeehaus ist nicht immer ein guter Ort zum Lesen. Manche Kaffeehäuser sind zu unruhig, zu laut, als dass ich in ihnen lesen könnte, allenfalls Zeitungen, aber ich lese fast nie Zeitungen im Kaffeehaus, die überlasse ich anderen. Ich halte mich lieber an das mitgebrachte Buch oder die mitgebrachten Bücher. Oft, wenn ich ein Buch kaufe oder eines aus einer Bibliothek leihe, sage ich mir: So, jetzt gehe ich in ein Kaffeehaus und fange an, dieses Buch zu lesen.

Das Kaffeehaus ist ein guter Ort zum Schreiben. Im Kaffeehaus fällt mir immer etwas ein. Wenn mir einmal doch nichts einfällt, schreibe ich darüber, dass mir nichts einfällt, und schon fällt mir dazu viel ein. Ich notiere dies und das, oft kleine Beobachtungen, wie sie sich wahrscheinlich nicht nur im Kaffeehaus machen ließen, aber die ich eben dort mache.

Er beobachtete im Kaffeehaus Menschen. Nicht um sie zu studieren, ethnologisch, soziologisch, psychologisch oder womöglich, um ihre Eigenarten irgendwann irgendwie literarische zu verwerten, sondern bloß, um sich zu vergewissern, dass sie sind, wie sie sind. Dass junge Männer hübsch sind oder nicht hübsch genug. Dass Frauen zwitschern, gackern, gurren und krächzen, was misogyne Beschreibungen sind, die er gern notierte. Dass den beiden wuchtigen Kellnern mit den schönen schwarzen Bärten nur nur die Schabbesdeckeln fehlen, damit sie aussähen wie konservative Rabbiner. Dass der Piccolo blass und pickelig ist, aber überraschend geschickt, wenn er ein volles Tablett balanciert, und übrigens auch ein liebes Lächeln hat, wenn man ihn mit einem Scherz zum Lachen bringt. Dass es die feinen alten Damen immer noch gibt, die miteinander über Oper und Burgtheater plaudern. Dass der kleine amerikanische Junge Torte in sich hineinschaufelt und dabei mit der Gabel hantiert, als wäre es seine erste und niemand habe ihm gezeigt, wie man sie manierlich hält. Dass am Nebentisch einer mit seinen politischen Kontakten oder Urlaubsreisen oder Bauprojekten angibt oder mit allem zusammen, während der ehemalige Schulkollege, den er beeindrucken möchte, anscheinend bloß Lehrer geworden ist; wenn der Angeber aufs Klo geht, verlangt der Lehrer die Rechnung und wird dann sagen, er müsse jetzt los, aber man sollte sich unbedingt mal wieder treffen. Kurzum, all diese völlig belanglosen Beobachtungen, an die man, wenn man denn wollte, Geschichten knüpfen könnte, die man aber vorderhand nur aufschreibt, um irgendetwas geschrieben zu haben, als man im Kaffeehaus saß.

Manchmal treffe ich mich mit jemandem im Kaffeehaus. Dann beobachte ich fast nichts (und lese und schreibe nichts), weil ich mich ganz der Person widme, die mir gegenübersitzt. Nur den Kellner behalte ich ab und zu im Auge, wenn ich etwas bestellen will. Ein zweites, drittes Kännchen Tee oder ein Bier. Oder ein zweites, drittes Bier.

Er saß gern im Kaffeehaus, trank Tee, las und schrieb. Er saß gern im Kaffeehaus, trank Bier und redete und hörte zu. Das Kaffeehaus war ein guter Ort zum Reden. Ein gutes Kaffeehaus war überhaupt ein guter Ort. Kein Ort, an dem man wohnt, aber einer, an dem man sich wohlfühlen möchte. Behagen und Fremdheit in schönstem Gleichgewicht. Man ist zu Gast, aber verfügt frei über sich selbst. Das gefiel ihm.

Er ging gern immer wieder in die Kaffeehäuser, die er schon kannte, oft seit vielen Jahren, er probierte aber auch immer gern neue Kaffeehäuser aus, nicht nur auf Reisen. Unwohl fühlte er sich in einer fremden Stadt, wenn er kein Kaffeehaus fand, wo er sitzen und Tee trinken, lesen und schreiben mochte. Dann waren Museumscafés oft seine Rettung. Dort immerhin konnte man vor oder nach oder vor und nach dem Schauen Tee trinken, lesen und schreiben. Gute Museen mochte er ebenso gern wie gute Kaffeehäuser. Museum und Kaffeehaus gehörten für ihn fast so fest zusammen wie Kaffeehaus und Literatur (oder Literatur und Museum). Eine Stadt ohne Kaffeehauskultur war keine Stadt, in der er sich wohlfühlen konnte.

Ich schreibe gern im Kaffeehaus, aber ich schreibe fast nie über Kaffeehäuser, um ihre Eigenarten zu beschreiben, ich verfasse ja keine Reiseführer. Ich schreibe auf, was mir gerade einfällt. Als Kaffeehausliterat notiere ich mir, was ich für mich und das, was ich noch zu schreiben vorhabe, brauchen zu können meine. Auch mein Versuch über das Kaffeehaus kann also nur mein Versuch sein, eigenwillig, ohne jeden Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit, Vollständigkeit oder etwas Drittes, das mir gerade nicht einfällt. Bloß ein Versuch also, Fremdheit und Behagen auszubalancieren. Ich hätte diesen Versuch gern im Kaffeehaus geschrieben, zum Beispiel in dem schönen, hellen neben den königlichen Gärten in Venedig, durch dessen bodentiefe Fenster der Blick frei über das glitzernde Wasser des Markus-Becken hinüber zur Georgsinsel und dem Alten Zollgebäude schauen könnte, wenn einem der schwimmende Anleger des Dampfbötchens und ein paar Verkaufshütten den Blick nicht verstellten. Ich stelle mir vor, ich hätte es getan. Ich wäre dort gesessen, hätte Tee getrunken (und frisch gepressten Orangensaft), hätte gelesen und geschrieben. Wenigstens habe ich es geschrieben.


Stefan [Broniowski]


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