[zurück] | blättern | [weiter]


Wir

Wir stapfen die Stufen hoch. Im gleichförmigen Takt, den der Vordermann vorgibt. Drängeln lohnt sich nicht. Es geht auch oben nicht schneller. Die U-Bahn kommt, wenn sie kommt. Sie fährt, wenn sie fährt. Die Masse unserer Füße erzeugt ein Geräusch wie nagende Holzwürmer. Wir können nicht sicher sein, ob wir wirklich wissen, wie das klingt. Geräusche lassen sich nicht googeln. Und wir haben keine Holzwürmer zuhause.
Wir stapfen, wir stehen gedrängt ohne uns zu berühren, wir legen uns in die Kurve. Wir arbeiten. Wir beugen uns über Tastaturen und starren auf Bildschirme. Wir zwinkern nur so oft, wie es nötig ist. Wir hüllen uns in Parfümwolken und duschen zu häufig. Wir denken an den Regenwald und laden nachts unser Handy auf. Wir unterstützen Hilfsprojekte, weil wir uns gut fühlen wollen. Wir reden nicht miteinander, wir kommunizieren global.

Wir stapfen auch auf dem Nachhauseweg. Es ist eng. Doch die rollende Treppe bietet einen kleinen Moment der Verschnaufpause. Wir haben es gut. Wir können uns unseren Lebensstil leisten. Das kann nicht jeder von sich sagen.

Wir sind individuell. Wir können entscheiden, wie wir leben wollen. Wir genießen unser Singledasein. Wir genießen unsere Beziehungen. Wir entscheiden uns vielleicht für Kinder. Und dann beugen wir uns über ihre Wiegen und haben diese kleinen Glücksmomente. Doch wir sagen nur, dass sie die Nächte aufwiegen. Und die Windeln. Und den vollgekotzten Anzug. In Wirklichkeit wiegt es gar nichts auf. Vielleicht auch, weil niemand auf die Idee kommt, etwas auf die Waage zu legen. Wir haben nicht die Zeit dafür. Wir pflanzen keine Bäume, doch wir haben einen Balkon. Und am Wochenende gehen wir mit den Kindern in den Park. Sie sollen es auch schön haben. Wir überstehen Kinderkrankheiten und Ängste. Irgendwann sind sie groß. Und es kommt dieser Moment, in dem wir morgens im Spiegel einem Paar sehr müder Augen begegnen. Wir können den Blick nicht mehr abwenden. Zum Glück gibt es eine Erklärung dafür, sie heißt Wohlstandsdepression. Uns geht’s zu gut, da sind wir sicher, deshalb bezahlen wir Therapeuten. Wir können es uns leisten. Zum Glück können wir uns unser Leben leisten.

Im Winter fahren wir Ski, im Sommer in den Süden. Es gibt Eis am Stiel und wieder einen Moment, in dem alles gut ist. Panta rhei, nicken wir dem Sternenhimmel zu, denn das ist griechisch und passt zur Landschaft und zum Moment, denn alles fließt. Und wir sind im Fluss. Wie sehr wir im Fluss sind, merken wir am Montag wieder, wir stapfen die Stufen hoch. Im gleichförmigen Takt der knirschenden Holzwürmer. Klopf auf Holz, dass die U-Bahn heute pünktlich ist. Wir schauen auf die Uhr. Wir sind mobil. Wir bleiben es auch. Wenn der Rücken schmerzt, gehen wir zum Training. Wir atmen entspannt. Wir atmen tief in den Bauch. Ein und aus. Panta rhei. Alles gleichmäßig.

An besonderen Tagen gehen wir essen. Zu zweit mit Kerzenlicht und Kaviar. Zum Glück können wir uns unser Leben leisten. Wir schließen Versicherungen ab. Für den Ernstfall. Wir reden so, als wäre der heutige Tag nicht ernst. Aber das ist der einzige Scherz, den wir uns im Gespräch erlauben. Wir sind sicher. Wir sind gesund. Wir werden nicht immer gesund sein. Aber die Medizin wird uns helfen. Wir glauben an sie. Sie trägt uns durch die Wochen, wenn es sein muss. Wohlstandsdepressionskopfschmerz macht sie manchmal erforderlich. Doch dann geht es weiter. Wir stapfen im Takt in das Wochenende. Die rollenden Treppen tragen uns auf die Regale mit Lebensmitteln zu. Wir ernähren uns gesund. Wir essen aber auch Schokolade. Auf das Maß kommt es an. Maß muss man halten und die Figur. Wir müssen den Gürtel nicht enger schnallen, aber er darf auf keinen Fall noch weiter werden. Wir atmen ein und aus. Wir atmen regelmäßig. Wir sind gesund. Wir haben eine Feierkultur. Wir hören Musik. Wir tanzen dazu. Wir lernen Sprachen. Wir reisen. Wir kaufen exotische Gewürze und kochen dann nicht damit. Aber wir haben sie durch den Zoll bekommen. Wir trinken. Wir trinken über den Durst. Wir betäuben uns, damit wir uns spüren können und fühlen doch nichts. Wir sind gebildet. Wir gehen ins Theater und gelegentlich in die Oper. Nein, wir schwindeln. Wir gehen ins Kino und selten ins Theater. Aber wir wissen, dass es eins gibt. Wir haben die pdf-Datei mit den Spielzeiten auf dem Desktop abgelegt. Wir lesen Bücher. Auch mal welche mit schwierigen Fragestellungen. Wir sehen die Tagesschau. Wir sind informiert. Wir wissen, wer gestorben ist. Aber wo die Person hin ist, das wissen wir nicht. Das macht uns Angst. Aber zum Glück haben wir dafür keine Zeit. Zum Glück können wir uns unser Leben leisten. Wir haben Sex. Wir halten uns aneinander fest und hoffen auf die Ewigkeit. Warum schreist du „O Gott“, wenn du ihn gar nicht meinst?

Deine Seele weiß mehr als du. Wir wissen, was eine Seele ist und wie viel sie wiegt. Wir haben es erforscht. Wir sind so viel weiter als noch vor einigen Jahren. Wir können viel mehr. Wir sind mächtig. Wir können Unglaubliches leisten. Wir atmen regelmäßig. Ein und aus. Wir stapfen im Gleichschritt treppauf und treppab, ohne zu stolpern. Sicheren Trittes laufen wir auf diesem Planeten, der uns völlig gehört. Zum Glück können wir uns unser Leben leisten. Ein paar Jahre noch. Doch wir hören nicht auf Kritiker. Die sind nur politisch motiviert. Wir lassen uns nicht so schnell beeindrucken. Wir sind informiert. Wir atmen regelmäßig. Wir sind viele. Unser Name ist Mensch. Wir sind die intelligenteste Spezies innerhalb unseres gedanklichen Horizonts. Wir schauen ins All und wissen, wie es dort weiter geht. Wir sind sicher, die Geheimnisse aufgeklärt zu haben. Wir sind überheblich. Doch wir sind es alle, deshalb fällt es nicht so auf. Wir stapfen und atmen. Zum Glück können wir uns unseren Lebensstil leisten. Wir feiern Geburtstag, Ostern und Weihnachten. Wir konsumieren. Wir stapfen durch Schnee und hüpfen durch Gras. Wir fühlen uns leicht und unbeschwert. Wir sind müde und wollen nicht aufstehen. Wir erforschen Hirnzellen und schauen fern. Wir lassen uns die Zukunft weissagen und glauben doch nicht daran. Wir lassen uns von Beweisen überzeugen. Wir sind aufgeklärt. Wir sind vernünftig. Wir sind modern. Wir können uns uns leisten. Wir sind eine Leistungsgesellschaft. Wir sind höher, schneller, weiter, besser. Wir sind das personifizierte Highspeed-Internet. Nichts ist unmöglich. Wir sind Prometheus und Herkules, Aphrodite und Narziss in einem. Wir sind genial. Wir sind schöpferisch. Wir sind so gut, dass wir den guten alten Gottvater endlich überholt haben. Er ist so alt und angestaubt, dass wir uns noch nicht einmal an ihn erinnern. Wir sind einsam. Wir sind hilflos. Wir sind sinnentleert. Die Schwarmintelligenz macht uns Sorgen. Wo laufen wir hin, wenn wir einander folgen? Wir haben keine Ahnung – und nichts begriffen.

Katharina [Spengler]


[zurück] | blättern | [weiter]


startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum