[zurück] | blättern | [weiter]


Spaziergänge in Florenz | Teil 1

Florenz, was für ein Name, welche Erwartungen. Man wird sich vorbereiten müssen, doch ich lasse mich ablenken. Ich muss an Florencia denken, eine ehemalige Freundin. Diese Gedanken führen aber woanders hin, in ein anderes Leben. Trotzdem denke ich bei Florenz zuerst an Florencia, das ist merkwürdig … Dann denke ich an meine deutsche Frau, die nach Florenz reiste, während ich in Kassel unsere Tochter versorgte. Auch diese Geschichte führt von Florenz weg in ein zweites Leben … und endet mit einer Ehescheidung ... Ich ermahne mich, nach vorn zu schauen; Florenz hat so viel Geschichte, da holt einen die Vergangenheit ein. Am besten wäre es, florentinisch zu denken, weiß aber nicht, wo ich anfangen und aufhören soll. Am besten denke ich an Lorenzo de' Medici, welcher »il Magnifico«, der Prächtige, genannt wurde.

Meine japanische Frau, die Künstlerin Mitsue, hat nichts dagegen. Obwohl sie weniger an diesen Medici als an meinen stattlichen Studenten Lorenzo denkt, mit dem ich nach Rom reiste. Wenn sie mag, kann sie mit ihm ebenfalls verreisen, falls er das will. Wir können auch zusammen verreisen, das haben wir schon mehrfach getan. Des Weiteren will ich nur kurz an die großen Italienreisen der Klassiker und Romantiker denken, sonst verfange ich mich in einer Endlosschleife … Goethe, Liebhaber des »Lustgartens Boboli« und des »Palazzo Ricardi«, hat beim zweiten Florenzbesucher dem eigenen Bekunden nach »fast alles gesehen, was Florenz an Kunstsachen enthält«. Karl Philipp Moritz und Johann Gottfried Seume, die zumeist zu Fuß reisten und als wandernde Flaneure gelten, waren ebenfalls vor Ort … Ich muss mich bremsen, sonst fallen mir meine kleinen Italiengeschichten ein, von denen eine im »Hippie-Bus« mit Kind und Kegel durch Norditalien nach Venedig führte. Eine spätere Flugreise brachte mich mit meiner griechischen Freundin aus Drama (Nordgriechenland) nach Sizilien sowie auf die kochend-tobenden Liparischen Inseln und Inselchen, welche im Tyrrhenischen Meer gelegen sind.

Schnitte müssen also angebracht werden, meine Italienreisen sind recht bunt … Mitsue, meine kluge, intelligente, schöne Gattin, war schon Jahre vor mir als Kunststudentin in Florenz. Damals wussten wir nichts voneinander und ahnten es nicht, dass wir jemals in Tokyo aufeinandertreffen würden. Die Belle war allerdings zur selben Zeit in Florenz, als meine deutsche Frau, eine Studentin der Germanistik und der Theologie, mit ihrem Trupp bewegt und abenteuerlustig die Medici-Stadt bereiste, während ich in meiner Geburtsstadt Kassel als braver Hausmann unseren fortschrittlichen Haushalt führte und die Tochter betreute … Die neumoderne Documenta-Stadt Kassel, die ihr Altertum eingebüßt hat, ist seit Langem eine Partnerstadt von Florenz. Herkules, dieser Heroe im Habichtswald, lässt sich so herausragende Beziehungen nicht entgehen. Die K-Stadt hofft darauf, vom künstlerischen und kulturellen Ruhm der Renaissance-Metropole zu zehren und ihrerseits vom neuartigen und experimentellen Ruhm als einer künstlerischen Avantgardestadt zu künden.

Will nicht herumreden, ich muss Wege finden, die durch Florenz führen. Es gibt viel zu viel zu sehen. Was mich in der Stadt am Arno vielleicht am meisten reizt, ist Dante, dieser verfolgte großartige Dichter Dante Alighieri, mit dem man Höllen, Vorhöllen und Himmel etwas abgehoben durchschreiten kann. Alle großen Dichter wie Ovid, Dante, Heine, Kafka und auch Brecht … »müssen« gesellschaftlich verfolgt und verleumdet werden, sonst werden sie nicht so groß. Verfolgung und Erfolg stehen in einem poetischen Zusammenhang. »Übermenschliche Größe« hat ihren Preis, obschon es verheißungsvollere Wege gibt. ‒ Erschöpft von der Erinnerung an die vielen Canti/Gedichte/Gesänge der »Göttlichen Komödie«, erholen wir uns in den Uffizien beim Blick auf die Werke Sandro Botticellis, des Renaissancemalers. Wenn man Die Geburt der Venus (La nascita di Venere) vor Ort betrachtend erleben kann, wird man auf dem Weg der Renaissance und der mentalen Erneuerung unaufhörlich zügig voranschreiten. Das Werk Frühling (Primavera) erfüllt einen ähnlichen Zweck.

Nachdem ich diese Arbeiten erstmals auf dem Gymnasium im Kunstunterricht auf Abbildungen bewundern konnte, sehe ich die Werke endlich live, obschon sich nicht wenige Köpfe von MuseumsbesucherInnen vor die Gemälde schieben. Gut, ich überrage die Köpfe um einiges, meine Japanerin sieht jedoch nichts … Soll ich sie hochheben? Verärgertes Denken kommt nicht in Frage, nur fröhlich entspanntes. Einige hübsche Köpfe passen gut mit ins Bild, andere weniger. Wir warten auf den klärenden Abstand. Ich genieße das subjektive Betrachten, das Genießen mit den Augen ... Allzu geistreiche und überladene Interpretationen lassen wir außen vor ... Es genügt, Botticelli zu lieben und ihm den Titel ›Malergott‹ zukommen zu lassen. Der ›Malergott‹, seine Venus sowie meine Venus, also meine japanische Künstlerin als ›Malergöttin‹, und ich bilden in unserer florentinischen Imagination ein wunderbares Quartett.

Die aus ›Meeresschaum‹ (und aus dem Geschlechtsteil des Uranos) geborene blonde Mittelmeer-Venus hatte mich seit jungen Jahren inspiriert, wovon bis heute Spuren zurückgeblieben sind. Frau Venus treibt auf einer großen Meeresmuschel in strahlender Schönheit unbekleidet an den Strand, sei’s Kythera, sei’s Zypern, vom Windgott Zephyr frisch angeblasen und belebt … Das Gemälde Primavera zeigt die Venus ebenfalls, diesmal ist sie bekleidet und erscheint nachdenklich, wie sie so neben der Göttin des Frühlings steht, in die sich Flora, von Zephir angetrieben, verwandelt hat. Gott Amor schwebt über dem Haupt der Venus und schießt von dort (berechnend oder zufällig?) seine Pfeile ins Herz der BetrachterInnen, wohingegen die drei tanzenden Grazien unter ihren Gazeschleiern nackt sind und Merkur, der Gott der Händler und der Diebe, nach dem Himmel greift.

So viel schöne Mythologie! Freilich, meiner japanischen Venus gebührt ebenso viel Aufmerksamkeit … Ich muss daran denken, wie die Belle, ihren Erzählungen nach, im jugendlichen Alter von zwanzig in den letzten märzlichen Wintertagen in einen halblangen Mantel von Yohji Yamamoto gehüllt auf bordeauxfarbenen Stiefelletten durch Florenz zu den Tempeln der Kunst flanierte, von gutaussehenden sowie gutgekleideten jungen Italienern verfolgt, die sich nach kommunikativen Akten, vor allem nach Amore mit der frischen, feschen, streunenden, tigernden und/oder nomadisierenden Kunststudentin sehnten. Die Frage der Männer, ob ihr Make-up von Shiseido sei, ließ Kennerschaft erahnen. Italienische Brocken wie bella signorina, mia bella donna, ti amo und fare l'amore ließen kurzfristige Verwirrungen der Gemüter zu.

Wir bewundern die Renaissance, und ich bewundere meine Frau, die erst unlängst dem Japanischen Meer entstiegen zu sein scheint und seitdem von Männern und Frauen jeglichen Alters verfolgt wird ... Ohne Frage sind Botticellis Venus und sein Frühling alterslos; an dieser Alterslosigkeit möchten die Künstlerin aus Japan und der Dichter aus der D-Stadt (Drachenstadt Düsseldorf) mit ihren poetischen Illusionen teilhaben … Übrigens, wenn ich mit der japanischen Venus reise, muss ich das standesgemäß tun. Wir haben den Palazzo Guicciardini im ruhigen Stadtteil Oltrarno zu unserer Residenz erkoren, knapp zehn Minuten vom Palazzo Pitti mit der Galleria Palatina entfernt. Unser Hotel, in der Via di Santo Spirito gelegen, wird als Residenza d'Epoca geführt. Ich weiß nicht, ob das eine illustre Kette oder ein schmückendes Beiwort ist. Nun ja, es scheint eine noble Kette zu sein. Im Palazzo wird lediglich die erste Etage als Hotel geführt. Die Zimmer sind Suiten mit hohen Decken und kunstvoll gestalteten Fresken aus dem 16. Jahrhundert. Einst war der Palazzo die Hauptresidenz der Patrizierfamilie Guicciardini, welche sich in Florenz in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ansiedelte. Wenn man in diesen wunderbaren Räumen in sich selbst hineinhört, glaubt man alte und neue Geschichten zu erleben … Alte Geschichten, davon erzählen die Fresken. Neue Geschichten, das sind die unseren. Es sind nicht viele Gäste im Hotel. Japaner? Nein, Chinesen! Eine chinesische Familie mit ihrem 17-jährigen Sohn sowie zwei junge extravagante Chinesinnen treffen wir zuweilen im Salon, in dem wir das Frühstück einnehmen oder zum Kaffee in Journalen blättern. Die jungen Frauen, zarte vivide Freundinnen, sind so um die zwanzig herum und wollen, wie einst Mitsue, die Welt erobern.

Und ich? Ich bin ein Flaneur, der sich unterwegs oft selbst verliert ... Wieder einmal weiß ich nicht, wie ich heiße ;‒) Vielleicht heiße ich Florian, den Namen finde ich passend, wenn ich an große Liebende wie Romeo und Julian oder … Bonnie und Clyde … denke! Mitsue und Florian passen in diese Reihe der eigensinnigen Paare gut hinein. Jedenfalls sind wir nahe dran am florentinischen Geist. ‒ In verliebter Entdeckerfreude spazieren wir die Straße hinab, an der unser Hotel liegt. Am Piazza Santo Spirito befindet sich nicht nur die Kirche Santa Maria del Carmine, sondern auch das Insider-Restaurant Dolce Vita plus Cocktail-Bar. So ist das, wegen des süßen Lebens und wegen der Renaissancemalerei sind wir in Florenz – nicht wegen santo, santo, santo … Die gesamte Stadt ist jedoch ein mit Kunst angefülltes Areal, das aus Museen, Kirchen und Palästen besteht. Das üppig vorhandene Religiöse bedeutet uns wenig, wir fassen es als Kunst auf. Die erwähnte Kirche enthält in ihrer Brancacci-Kapelle Fresken der Meister Masaccio, Masolino und Filippino. Auf der oberen Etage erinnert Masolinis Die Versuchung von Adam und Eva und Masaccios Die Vertreibung aus dem Garten Eden an sehr alte Zeiten sowie an die Unterdrückung des Lustprinzips.

Neue Menschen wie uns treibt es ins Dolce Vita. Auch die Szene-Bar Escape Club ist nah. Vertreibung aus dem Paradies, das war einmal. In Gedanken entwickeln wir unser paradiesisches Nachtprogramm. Das Dolce Vita ist nüchtern modern eingerichtet; das hatten wir so nicht erwartet. Hier verkehrt allerdings die coole Designer-, Werbetexter- und Grafikerszene. Ausstellungen, auch solche mit erotischen Fotografien im Stil Helmut Newtons, sind zu sehen. Meine Frau wird gefragt, ob sie fotografiert werden darf. Why not! Ich muss sie bloß im Auge behalten. Das Dolce Vita gilt als der wichtigste Pre-Party-Club der Florentiner Szene. Verglichen mit dem Dolce Vita ist der kleinere Escape Club von vornherein ein erotisches Labyrinth. Hier kommt man schneller an das, was manche hauptsächlich wollen. Wenn Mitsue und ich sich in der Nacht trennten, dann säße ich im Dolce Vita noch immer vor meinem zweiten Cocktail, wohingegen Mitsue im Escape Club schon zwei oder drei Liebhaber gehabt hätte ;‒)

Ein riskantes Spiel? Ach, es handelt sich nur um paradiesische Gedanken. Wir gehören zu den neuen Renaissance-Menschen des 21. Jahrhunderts, denen man kein X für ein U vormachen kann. Wir werden die Nacht im gemeinsamen Schlafgemach ‒ im ›Paradies-Garten‹ ‒ unseres Hotels Palazzo Guicciardini verbringen. Ma Belle konkurriert mit den Fresken an der Wand, das hat Stil ... Wegen des Stils, der höfischen Liebhabern eignet, lasse ich die Nacht unkommentiert an den LeserInnen vorüberziehen.


Wulf [Noll]


[zurück] | blättern | [weiter]


startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum