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Spaziergänge in Florenz | Teil 2

Die Luft flimmert, das Flanieren strengt an. Selbst am Arno weht kein Lüftchen. Mitsue möchte den Palazzo Guicciardini nicht verlassen, sondern sich in den klimatisierten Räumen entspannen. Ihr wäre danach, Hof zu halten und die jungen italienischen Bediensteten mit Sonderwünschen zu beschäftigen. Ich kann sie jedoch überzeugen, dass auch die Museen klimatisiert sind. Also wollen wir uns auf den Weg machen, muss Mitsue aber versprechen, am nächsten Tag mit ihr zum Shoppen in die Boutiquen zu gehen. Das ist gelobt. Die Belle trägt einen breiten Florentinerhut und spaziert überdies anmutig unter einem Sonnenschirm; sie ist unübersehbar. Ich komme mit den Temperaturen gut zurecht. Bin inzwischen selbst mit einem leichten Sommerhut ausgestattet, den Flanierstock lasse ich im Hotel, ich könnte ihn im Museum vergessen.

Das Dante-Haus kommt morgen oder übermorgen dran. Heute spazieren wir am Haus vorbei und lenken unsere Schritte zum Stadtmuseum Bargello, in einem Palazzo gelegen. Das Museum ist für seine SKULPTUREN berühmt: Michelangelo, Giambologna, Donatello … Für den Nachmittag wartet das nächste Highlight. Übers Internet konnten wir Karten zum Besuch der Galleria Palatina im Palazzo Pitti buchen. Florenz ist der hellste Wahnsinn; man erlebt hier die Apotheose der Kunst oder die Kunst nach dem Ende der Kunst. Vom »Ende der Kunst« halten wir nichts; das ist ein dummer Satz Hegels, aber er ist nicht ganz falsch. Die Illusionen der Religionen und der Künste müssen ins Diskursive der Philosophie überführt, aufgeklärt und hinterfragt werden. Hegel hatte freilich keinen allzu guten künstlerischen Geschmack. In Geschmacksfragen folge ich meiner bildenden Künstlerin Mitsue Maruyama; deren Geschmack hält mich munter. Eine Epoche, ein Zeitalter, mag vorübergehen; aber die Renaissance ist mehr als eine Epoche. Sie liefert einen Neuanfang nicht nur in der Kunst, sondern im Leben wie im Denken. Renaissance, das ist eine Verheißung aufs Neue, auf eine »fröhliche Wissenschaft«, auf ein freies, lustvolles Leben.

Der Gott mit den Fußflügeln – Merkur – gehört seit Langem zu meinen bevorzugten Göttern. Mit ihm hab‘ ich ein Bündnis geschlossen; er ist das Urbild eines Flaneurs, der fliegen kann. ‒ Dem Gott zu Ehren habe ich meinen Kater Mercurius genannt. Kater M. ist musikalisch, zuweilen miauen wir gemeinsam oder abwechselnd die Tonleiter mal rauf, mal runter. Derzeit wird Mercurius von einer Freundin in Deutschland betreut. Hoffentlich fährt sie mit ihm nicht zum Segeln … Giambolognas Fliegender Merkur, auf den wir jetzt blicken, ist eine 1,80 m große Bronzefigur ‒ um 1578-1580 in der Zeit des Manierismus und des Frühbarock entstanden. Sie zeigt Merkur, wie er sich vom Boden löst. Nur leicht tritt er mit den Zehenspitzen des linken Fußes auf, im nächsten Moment scheint er abzuheben. Man braucht nicht viel Fantasie, um den Übergang von einem laufenden zu einem fliegenden Gott zu erkennen. Ich bewundere die skulpturale Schwerelosigkeit. Flanierender Gott, fliegender Gott …, ich will das Flanieren in all seinen Varianten erforschen.

Giambolognas Fliegender Merkur passt gut zu Michelangelos frühem Werk Bacchus (1496-1497). Es zeigt Bacchus als jungen Gott von Anfang zwanzig, dessen Attraktivität mich fassungslos macht. Wer war das Vorbild? Der cremeweiße, hautfarbene Marmor lässt die beseelt wirkende Figur so sinnlich erscheinen, als sei sie aus Fleisch und Blut ‒ sozusagen ein lieber Freund aus gutem Hause von nebenan. Eine schöne, männlich-sinnliche Erscheinung mit einem Hauch von Androgynität! Ganz mein Geschmack! Die Körpergröße von 2,03 m stört mich nicht, Götter dürfen etwas größer sein. Bin selber zwanzig Zentimeter kleiner, habe jedoch schon FreundInnen von dieser Größe gehabt. Den schwankenden Gott zeichnet eine wohlige Trunkenheit aus, mich ebenfalls ... Hätt‘ so eine Idee! Ich würd‘ mich zur Abwechslung mit dem Gott vermählen: rein spirituell gesehen, anders geht es ja nicht.

Habe »ma Belle« meine verwegenen Gedanken mitgeteilt, doch Mitsue zeigt ihrerseits einiges Interesse am Gott. Bacchus ist nackt, sein Haupt ist mit Efeu und mit Weinreben umkränzt, welche wie lockendes Haar von den Schläfen perlen. Die Weinschale hält B. im rechten erhobenen Arm, während er in der herabhängenden linken Hand das Fell eines wilden Tieres ‒ wahrscheinlich eines Tigers ‒ trägt. Das Renaissancehafte zeigt sich darin, dass B. allseitig nackt dargestellt wird. Die beste Stelle des Gottes blieb nicht ausgespart, wurde aber attackiert. Die Hoden sind noch da, aber der Penis ist weg. Hier zeigt sich die tumbe Beschränktheit früherer Generationen. ‒ Mitsue und ich, wir hängen eigenen Gedanken nach. Ich sehe den Penis nachwachsen. Wir müssen an vieles denken.

Unsere forschenden Blicke wandern weiter. Das linke Stand- und das rechte Spielbein korrespondieren mit der Armhaltung. Ein unschuldig wirkender Satyrjunge nascht an einer Weinrebe und hat sich fest an den Gott geschmiegt ... Das geschieht allerdings nur aus dem Grund, um der Skulptur die benötigte Standfestigkeit zu verleihen. Sonst kippt sie um ... Alles wirkt gut durchdacht, tief, schön, sinnlich. »Ma Belle« und ich sind sich einig: es stellt sich eine ungebändigte Lust ein, die berühmten Bacchanalien, möglicherweise im Florentiner Escape Club oder auf einer Privatparty in einem großzügigen Haus, leidenschaftlich mitzufeiern.

Wie? Das abgezogene Fell, welches der Gott in der Hand hält, könnte meines sein? Wer sagt das? Mein »Gegen-Ich«? Oder steht ein »Hater« neben mir? Dass mir jemand das Fell über die Ohren zieht, lässt mein Beschützergott Merkur nicht zu. Der ist auf meiner und auf Mitsues Seite ... Ein abgezogenes Fell lässt an den Tod denken, der bei Bacchus aber keine große Rolle spielt. Der Gott stirbt Jahr für Jahr, bloß um unverzüglich wiedergeboren zu werden: Bacchus ist ein Auferstehungswunder. Je älter der Gott wird, desto jünger erscheint er ... Wenn das keine lebensfrohe Einstellung ist! Ich habe sie ihm abgeguckt. Bin B. ein bisschen ähnlich und werde von Jahr zu Jahr jünger, sagt meine Künstlerin. Erfolge dieser Art beruhen auf Liebe, auf Willenskraft und/oder auf Mythologie. Will man die Sache vertiefen, kann man sich der poetisch-kritischen Mythologie Robert von Ranke-Graves zuwenden, der einst auf der Insel Mallorca seine fröhlichen Freunde und/oder mythischen Genossen um sich scharte, um ihnen das Besondere zu lehren.

So viele Götter mit androgynem Touch; Mitsue und ich, wir fühlen uns von beiden Seiten angeregt. Von Sigmund Freud wird dieser Sachverhalt so einfach wie schlicht erklärt. In Wirklichkeit sind wir zweigeschlechtlich und tragen männliche und weibliche Anteile in uns, die sich mit der Zeit zwar verfestigen, aber dennoch miteinander in einer inwendigen Beziehung stehen. Renaissancemenschen akzeptieren diesen Sachverhalt leichter als andere ... Also gut, das kann jeder selbst überprüfen ... Vom trunkenen Bacchus zum kühnen David ist es nicht weit, jedenfalls nicht im Stadtmuseum Bargello. Donatellos auffällige Bronzeskulptur David ist wieder so ein hübscher, lebensgroßer, nackter junger Mann … Doch es gibt einen Unterschied, die anderen waren Götter, und David ist eine biblische Figur. Aber die jungen Herren sehen sich ähnlich…

Im Gegensatz zur Antike verhüllte die christliche Kunst den Körper und ließ ihn nur schematisch zu. Mit diesem antiquierten Körperbild mussten die Renaissancekünstler aufräumen. Der Natur folgend haben sie den nackten Körper wieder ans Tageslicht gebracht. In den Jahren 1444-1446 entstanden, bietet der florentinische David die erste Voll- und Rundumansicht seit der Antike, denn in der mittelalterlich-tristen Kunst wurde alles Lebendige verhüllt. Der Renaissance-David wird zum Vorbild für eine sich neu ausrichtende Kunst. Ganz nackt ist der Jüngling freilich nicht, er trägt einen (!) Hut, unter dem das lange Haar mädchenhaft verspielt herabfällt. Der schöne Hut ist mit Lorbeeren verziert. Der siegreiche David hält in der linken Hand den Stein, welchen er Goliath an den Kopf warf. Mit der rechten Hand stützt er sich entspannt auf das Schwert, mit dem er den Riesen den Kopf abschlug, wie auf einen Flanierstock. Vermutlich hat der smarte David den Grobian mit seiner Schönheit geblendet und darum besiegt. Auch der Betrachter ist geblendet und der Anmut des Kunstwerks erlegen, so dass man erst beim zweiten Hinsehen erkennt, dass der junge strahlende Held leicht und unbeschwert auf dem Kopf des Goliath steht. Was will uns der Künstler damit sagen? Donatello kündet vom Triumpf der Schönheit über die rohe Gewalt, vom Sieg der Aufklärung über den Aberglauben…

David, Bacchus, Merkur … sind im Museum nicht weit voneinander entfernt. Wenn wir uns zwischen ihnen bewegen, bilden wir ein Quintett, die mythologische Person David, die Götter Bacchus und Merkur, die Belle Mitsue und ich. Ein Gruppenbild mit Künstlerin ... »Entschuldigung, werte HerrInnen, seit der Renaissance sind wir vogelfrei. Wir dürfen uns kühn und überschwänglich wie die vividen Götter und Halbgötter verhalten, mit denen wir wetteifern und konkurrieren ...« ‒ Vernähme Zeus das, wäre er womöglich provoziert. Sein Verhalten ist nicht planbar. Der Treffliche könnte schon heute Nacht in einer bislang unbekannten Gestalt in Mitsue – oder in mich selbst – lustvoll strafend eindringen. Wir müssen in der Escape Bar, im Dolce Vita und im Palazzo sehr vorsichtig sein, mit wem wir uns einlassen. Andererseits definiere ich mich gerade, ich will’s nicht leugnen, als Renaissance-Autor. ‒ Hermes/Merkur ist mir beigesprungen; er sorgt für gute Nachrichten, indem er mich wissen ließ, dass Zeus/Jupiter laut gelacht habe und auf meine Definition neugierig geworden sei.

Neue Definition? Alle irdischen und überirdischen Personen dürfen in einer renaissancehaften »fröhlichen Wissenschaft« eine gute Figur abgeben: keck, fröhlich, sinnlich, sportlich, gut aussehend, gesund, erfolgreich und mit Intelligenz ausgestattet ... »Wir sind, wozu wir uns machen«, das wäre die existentialistische Variante ... Im Quattro- und im Cinquecento steht einiges auf dem Kopf und konterkariert das zu überwindende, überholte, alte, gehässige christliche Mittelalter ... Vom Kopf auf die Füße stellen; so gesehen sind selbst Marx und Adorno noch Renaissance-Autoren … Die Renaissance, ein weites Feld. Auf festen Füßen stehend werden die Neuentdeckung des Körpers sowie der Triumpf der Sinne über den eingeschränkten Geist gefeiert. Beim Flanieren in Florenz schichtet sich das Bewusstsein um. Die Flanierenden bringen die Neorenaissance in der Kunst und in der Literatur zum Ausdruck. Es gibt viele Ansätze. Bei Nietzsche werden die Grundsätze einer fröhlichen Wissenschaft formuliert, was zu dem schönen Satz führt, dass das Leben nur ‒ zumindest aber in erster Linie ‒ als »ein ästhetisches Phänomen gerechtfertigt« sei. Als ein erotisches Phänomen aber auch.

Der Besuch im Museum Bargello erweist sich als erfrischend; hier gibt es keine himmlischen Gefängnisse, keine Klosterzellen, wie man sie in San Marco sieht. Der Stadtpalast bietet künstlerische Erlebnisse, dazu gehören die Werke der Künstlerfamilie della Robbia. Besonders eindrucksvoll sind die glasierten Tonarbeiten, sie changieren zwischen Bild und Skulptur. Ich verbringe einige Zeit vor Andrea della Robbias (1435-1525) Porträt einer jungen Adligen und lasse ihre, nein, seine Vornehmheit in mich eindringen. Ich sehe eine junge Frau, die fast ein junger Mann ist, eine magische Schönheit, von einem dezent-blauen Kreis wie von einer Aura umgeben. Die Belle trägt leichten Perlenschmuck im straff zurückgekämmten blonden Haar, von dem rechts und links zwei kurze, bizarre Strähnen abstehen. Eine Kette mit winzigen Perlen um den Hals korrespondiert mit dem zuweilen nur erahnbaren Perlenschmuck im Haar. Ihr Gesicht ist leicht abgewandt, und der Blick ist es noch einmal ... Niemand weiß, was die junge Frau erlebt hat, doch eine besondere Traurigkeit geht von der Schönen aus. Man/frau wird sie trösten müssen. Einzigartig ist das Werk jedoch nicht; Luca della Robbia (1400-1481/82) kannte trotz seiner vielen Heiligen bereits ähnliche Motive.

Jetzt weiß ich’s, an wen mich die Schöne mit dem besonders traurigen Blick erinnert: sie erinnert mich an den Dichter Catull. Mir fallen die hunderttausend Küsse ein, die noch nicht geküsst worden sind. Doch ich weiß schon, wenn ich später im Palazzo Guicciardini meine japanische Venus anstelle einer Florentinerin umarme, kann ich ein paar Küsse nachholen. Alle Arbeiten der della Robbia-Dynastie besitzen eine magische Anziehungskraft, auch die religiösen. Die Ausstrahlung scheint aus dem Material zu kommen: Es sind oftmals Werke aus glaciertem Ton; Personen und Götter wirken lebendig, fast so, als hätten sie postexistiert und seien aus unserer Zeit. Aus unserer Zeit? Aus dem 21. Jahrhundert? Na ja, ein wenig exzentrisch sehen sie aus, die Personen und die Götter ... Das dürfen sie. Man könnte sie im Dolce Vita treffen … Dort lässt sich, wie soll ich es ausdrücken, dort lässt sich die coole postmoderne Eleganz der heutigen Florentiner bewundern.

Wir sind vom Kunstgenuss erschöpft und angeregt und nehmen in einer beliebten Trattoria in Oltrarno ein verspätetes Mittagessen ein. Einige von den hunderttausend Küssen lassen sich in unser »Residenza D'Epoca« nachholen. Doch in den Nachmittagsstunden wollen wir die Galleria Palatina im Palazzo Pitti besuchen. »Ach, können wir das nicht auf morgen verschieben?« »Nein, das geht nicht. Die Karten enthalten eine genaue Zeitangabe für den Eintritt ins Museum.

Wulf [Noll]


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