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Der Schrott

Der Kunsthändler Wiesel kaufte nicht von jedem. Er war nicht einmal bereit, von denen, denen er vertraute, etwas zu erwerben, das nicht etwas ganz Besonderes darstellte und sich nicht mit Gewinn weiterveräußern ließ. Von dem Hehler Scherbel, der ihn gelegentlich aufsuchte, um ihm irgendwelchen Schrott anzubieten, hatte er überhaupt noch nie etwas gekauft.

Als Scherbel diesmal in Wiesels Büro auftauchte und das, was er im Angebot hatte, gleich von sich aus als einen Haufen Bronze- und Eisenschrott bezeichnete, war Wiesel von Scherbels Dreistigkeit so genervt, dass er die Ware ablehnte, ohne sie überhaupt besichtigt zu haben. Er überlegte schon, ob er Scherbel nicht endlich Hausverbot erteilen sollte, damit er für immer Ruhe vor ihm hatte.

"Schade", sagte Scherbel und schickte sich an, das Feld unverrichteter Dinge zu räumen. "Es handelt sich nämlich insgesamt um etwa 25 Tonnen Metallschrott, die sehr, sehr lange im Wasser gelegen haben müssen, in Küstennähe, vor einer griechischen Insel. Das Bemerkenswerteste aber ist die Form der Stücke." Aufgrund dieser Angaben war Wiesel, der seinem Instinkt vertraute, nun plötzlich doch interessiert.

Aus dem Bauch heraus nannte er Scherbel eine Summe, die dieser als lächerlich abtat. Der Hehler machte einen Gegenvorschlag. Sie begannen zu pokern und zu feilschen, bis sie sich nach zähen Verhandlungen einem Kaufpreis näherten, bei dem sie sich beide nicht über den Tisch gezogen fühlten. Schließlich streckte Wiesel Scherbel die Hand hin. "Einverstanden", sagte der Hehler. "Allerdings unter folgender Bedingung: Der Schrott ist immer noch in Griechenland, in einer Lagerhalle, in der Nähe des Fundorts. Dort muss die Ware auch abgeholt werden." Weil Wiesel nichts dagegen hatte, waren sie nun endgültig handelseins. Scherbel schlug ein.

Nachdem der Hehler das ihm überlassene Bündel Bargeld eingesackt hatte, ließ Wiesel sich im Gegenzug den Schlüssel zu dem Lagerhaus aushändigen und flog nach Griechenland.

Er landete an einem späten Abend auf Rhodos, fuhr zu der angegebenen Adresse, betrat das Gebäude, schloss hinter sich ab und nahm mit Hilfe einer Taschenlampe seinen Metallschrott in Augenschein. Die Maße stimmten. Schon nach wenigen Sekunden wurde ihm bewusst, was er erworben hatte. Er war der neue Besitzer des seit vielen Jahrhunderten verschollenen Kolosses von Rhodos, eines der sieben Weltwunder der Antike.

In dem Augenblick, als er den Bronzeleib und die dazugehörigen Extremitäten auf Vollständigkeit überprüfen wollte, wurden an der Halle von außen gleichzeitig alle drei Türen eingetreten. Wiesel wurde von den hereinstürmenden Spezialkräften überwältigt und festgenommen.

Beim ersten Verhör warf man ihm vor, dass er geplant hätte, einen der größten Kunstschätze der Menschheit, der dem griechischen Volk gehörte, widerrechtlich außer Landes zu schaffen. Das Kulturministerium habe gerade noch rechtzeitig einen Tipp bekommen. Wiesel, der wusste, dass Scherbel ihn verpfiffen und ans Messer geliefert haben musste, rechtfertigte sich damit, dass er den Koloss in gutem Glauben erworben habe, ohne dass er vorher erfahren hätte, worum es sich bei dem Kaufobjekt eigentlich handelte.

Er solle nicht versuchen, ihn für dumm zu verkaufen, sagte der Kommissar, der das Verhör leitete. Er, Wiesel, könne jedenfalls nicht damit rechnen, seine Freiheit wiederzuerlangen, solange die Angelegenheit nicht vollständig aufgeklärt sei. Die Statue bleibe selbstverständlich in Griechenland und werde viele Jahrhunderte nach ihrem Verschwinden dem Volk zurückgegeben, restauriert und an ihrem ursprünglichen Platz wieder aufgestellt, nämlich in der Hafeneinfahrt. Der Premierminister sei bereits informiert und habe grünes Licht gegeben.

Weil Wiesel im Rahmen der weiteren Befragung aus Sicht des Kommissars keine brauchbaren Hinweise mehr lieferte, wurde über ihn auf unbestimmte Zeit die Untersuchungshaft verhängt. Gelegentliche weitere Einvernahmen in den folgenden Wochen verliefen ähnlich unergiebig.

Einige Monate später erschien der Kommissar aber plötzlich in Wiesels Zelle und eröffnete ihm überraschend, dass er ein freier Mann sei. Sie hätten den Hehler Scherbel verhaftet, erklärte der Polizist, als er gerade versucht hätte, einem texanischen Immobilienmakler den Kanal von Korinth anzudrehen. Scherbel habe im Zuge weiterer Ermittlungen auch im Fall des Kolosses ein Geständnis abgelegt.

Wiesel spürte Erleichterung und Genugtuung. Der griechische Staat, sagte er zu dem Kommissar, müsse ihn für die lange Haft entschädigen. Etwas Derartiges sei leider nicht vorgesehen, erwiderte der Kommissar. Das einzige, was er anbieten könne, sei eine Einladung zur feierlichen Enthüllung des mittlerweile restaurierten Kolosses im Hafen von Rhodos. Das wollte Wiesel sich nicht entgehen lassen und nahm an.

Als nach den obligatorischen Ansprachen lokaler und nationaler Politiker von einem Kran endlich die riesige Plane in die Höhe gezogen wurde, erblickte Wiesel, dem ein Platz im hinteren Bereich der Ehrentribüne zugewiesen worden war, das wiederhergestellte Weltwunder. Sein Blick blieb konsterniert an der Leibesmitte der bronzenen Statue hängen.

"Das Gemächt!", rief Wiesel entgeistert auf Griechisch. "Ihr habt das Gemächt vergessen!" Er erntete schallendes Gelächter. Erst als er seinen Blick noch weiter nach oben wandern ließ und die Brüste entdeckte, wurde ihm die ganze Wahrheit bewusst: Der Koloss von Rhodos war ein Mädchen.

Michael [Burgholzer]


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