[zurück] | blättern | [weiter]


Der Homo Mobilis
Aus: "Die Geschichte der post-postmodernen Welt" von Democritus Junior


Gegen Ende des dritten Jahrtausends nach christlicher Zeitrechnung etablierte sich eine neue Spezies, die sich schon seit langem im Hintergrund entwickelt hatte: der Homo Mobilis, der wandelbare Mensch, im weiteren HM genannt.

Durch vorzeitige Erstarrung war die Spezies des Homo Sapiens, im weiteren HS genannt, in der Entwicklung stehengeblieben. Die Erweiterung seines möglichen Lebensalters auf bis zu 500 Jahre hatte seinen generellen Starrsinn, in körperlicher und geistiger Hinsicht, erheblich verstärkt. Daher konnte die neue Spezies sich mit Hilfe einfacher Manipulationen in den vom HS bevölkerten Gebieten ausbreiten, diesen ausbeuten und ihn schließlich in Reservate zu verbannen. Der HM ist vom Aussehen her dem HS sehr ähnlich, ist aber nicht auf eine spezifische äußere Ausprägung fixiert. Seine Haut unterstützt die Ausbildung verschiedener Gesichts- und Körperformen, und im Gegensatz zum HS ist er in der Lage, vorübergehend Hilfsgliedmaßen wachsen zu lassen, die sich bei Nichtgebrauch innerhalb von Minuten wieder zurückbilden. Die einzige Begrenzung seiner Möglichkeiten ist seine Größe – selbst sein flexibles Skelett kann sich nur in einem Bereich von zwei bis drei Metern variieren.

Der Kopf befindet sich – wie beim HS – oben am Körper, weil sich diese Position langfristig bewährt hat. Haarfarbe, Augenfarbe und Gesichtsform haben jeweils eine persönliche Grundausprägung, die im Ruhezustand angenommen wird. Wenn sich zwei HM begegnen, passt sich derjenige, der den anderen zuerst wahrgenommen hat, automatisch dem Äußeren des anderen an. Durch diese Maßnahme begünstigt, verlieben sich zwei HM immer ineinander, sobald sie sich begegnen, und haben spontanen Geschlechtsverkehr. Sie sind mit primären Geschlechtsmerkmalen ausgestattet, die denen des HS ähneln, aber sie besitzen immer die Ausformung beider Geschlechter, um den Genuss zu maximieren. Der HM stellt die perfekt ausgebildete Form des Hedonisten dar. Wenn er sich jedoch nicht in Gesellschaft anderer befindet, beginnt er zu denken und malt sich neue Beglückungsszenarien aus.

Die Fortpflanzung ist ausgelagert und nicht mit dem Geschlechtsverkehr verbunden. Das gemeinsame Unterbewusstsein des HM ist intelligent genug, um positive und negative Genveränderung aufzuspüren und in die Gendatenbank zur Auswertung zu übertragen. Dort werden je nach Bedarf neue HM mit optimierten Eigenschaften gezüchtet. Jeder neu entstehende HM entwickelt seinen eigenen Erziehungsbrutkasten, der mit allen anderen vernetzt ist. Sobald der frische HM seinen Brutkasten aufgezehrt hat, ist er geschlechtsreif und kann er sich frei bewegen.

Um das Problem der Sterblichkeit zu lösen, wurde das Denkprinzip von Raum und Zeit aufgelöst und stattdessen das System der Polymorphen Simulation zum globalen Standard erhoben. Jeder HM sucht sich einen imaginären Aufenthaltsort als Wohnort aus, nach seinen persönlichen Bedürfnissen. Da die HM sich sehr ähnlich sind, finden sich oft Gruppen von ihnen in gemeinsamen imaginären Räumen zusammen.

Daten über die Bevölkerungszahl und die Ausbreitung des HM können nicht erhoben werden. Die Aufhebung von Raum und Zeit machte statistische Auswertungen sowohl unmöglich als auch obsolet. Als Folge davon wurde das Global Office of Data (GOD) aufgelöst und durch das Timeless Office of Speculative Systems (TOSS) ersetzt, dem wir für die Unterstützung dieses Artikels danken.

Susanne [Mathies]


[zurück] | blättern | [weiter]

startseite | litera[r]t | autor*innen | archiv | impressum