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Oder so | Rezension

Wahrscheinlich die diskreteste Relativierungsformel der deutschen Sprache heißt "oder so".

Wird dieses magische Zeichen für Mehrdeutigkeit einer Behauptung hintangestellt, so schwächt sie einerseits das Behauptete ab, indem etwas gar nicht so klar sein möchte, andererseits bekommen die verwendeten Begriffe Konkurrenz, es kann etwas "gefährlich sein oder so", der verwendete Begriff könnte durchaus ersetzt werden.

Martin Maier überschreibt seine knapp fünfzig Texte mit diesem "oder so" und lässt dabei das Genre offen. Manchmal glaubt man eine Parabel zu erkennen, wie sie in der Literaturgeschichte Franz Kafka mit seinem "Gibs auf" vorgelegt hat, ältere Leser werden an Bert Brecht und seine "Keunergeschichten" erinnert sein, wenn sich nach einer rätselhaften Problemstellung eine Art didaktischer Ausweg anbietet. Manches ist einfach eingedampfte Performance eines verschwundenen Alltags, und Anhänger des Bildes von der Doppelhelix in biologischen Zellen schwärmen von der Verschränkung, mit der Konnotation und Denotation sich in den Armen liegen.

Kaum hat man für eine Prosazelle eine brauchbare Zugangsform gefunden, dreht sie sich weg und die Suche nach einem Eintritt in den Text geht weiter. Das ist jedoch die erste Botschaft an die Leser: Traue deinem Wissen nicht über den Weg, es könnte alles anders sein. Einen leichten Schimmer von Ordnung strahlen die drei Kapitelüberschriften aus: Grund genug (5) / Aus den Bergen (61) / Begebenheiten (69).

Diese Kapitel sind als Pfannen zu sehen, in die nach älplerischer Manier Zutaten für eine seltsame Speise aufgeschlagen und eingerührt sind. In einem Interview vergleicht der Autor an anderer Stelle seine Vorgangsweise mit einem Antibiotika-Forscher: Ein Text ist eines Tages wie ein Pilz entstanden, er ist einfach da und kann nicht gezüchtet werden. Wie bei allen Lektüre-heiklen Texten sollte man in zwei Richtungen lesen, zuerst mit dem Finger jede Zeile nachspüren und über jedes Wort meditieren wie im Koan eines Zen-Meisters und anschließend mit Speed paraphrasieren.

Paraphrasiert zischen unter anderem folgende Highlights vorbei: Jemand hat zu Hause und im Auto einen Schirm liegen, wird aber regelmäßig im Regen nass, wenn er unterwegs ist. Er ist aber nicht unglücklich darüber, denn er weiß, wo die Hilfe gegen die Nässe deponiert ist. (7) Ein anderer durchquert unwegsames Gelände und stellt fest, dass es bessere Orte gibt, um einen Schlüsselbund zu verlieren. (9) Ein dritter Held verfällt regelmäßig, wenn er im Kaffeehaus einen Schluck Wasser nimmt. Da hilft ihm auch nicht die Aussicht auf einen Schluck Kaffee. (13)

Assoziationsketten, die thematisch mit einander zu tun haben, brechen mitten im Satz entzwei und nehmen einen unerwarteten Verlauf. An der Abbruchstelle ragt die Infrastruktur des Satzes ins Leere, wie wir es von Brücken kennen, die jäh weggeschwemmt worden sind. Angesteuerte Themen sind plötzlich nicht mehr wichtig, und auch der Leser tut gut daran, von diesen Irrläufern einer Handlung abzulassen.

Durch diese Erzählmethode des "Abrupten" entsteht viel unbebaute Sinnfläche, die schmerzt, weil sie so viele Möglichkeiten für einen Text offenlässt.

Zwischendurch tun sich groteske Fehlbilder auf, wenn etwa unter dem romantischen Titel "Berggasthaus" (19) eine Frau die Terrasse betritt und alles schön findet, während dem Helden das ungegenderte Würgen kommt, weil er an ihr einen ungünstig gesetzten Pigmentflecken entdeckt.

Auf völlig unerwarteter Ebene reagiert ein anderer Held auf die Anwesenheit des Schlosses, die zumindest Kafka-Interessierte zu einer Gedanken-Volte einladen sollte. Im Text nimmt der Held keine Notiz, weil das Schloss ja schon immer ohne ihn ausgekommen ist. Gerade durch das Verlassen des vorgegebenen Rezeptionspfades kommt er dem Phänomen Kafka vielleicht näher, als er es im ersten Moment denkt.

Das zweite Kapitel "aus den Bergen" (61) gibt sich im ersten Schmiss beinahe romantischidyllisch, es gibt wahlweise Unwetter oder freie Sicht, aber auf nichts ist Verlass. Eine Hügelkette nämlich verlässt ihren angestammten geographischen Sitz aus dem Vorland und schiebt sich bei gewisser Witterung vor die Berge.

In den "Begebenheiten" schließlich sind lakonisch Motive aus Märchen, Vorschulübung oder psychologischer Spielerei angezupft und schütteln mit wenigen Sätzen den Baukasten für wertvolle Geschichte durcheinander.

Rotkäppchen taucht unerwartet im zu groß ausgefallenen Seitenspiegel auf, ein Gast fällt vom Barhocker und wird vom Wirten mit der Bemerkung liegen gelassen: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. An einem öffentlichen Platz wallt ein Streit auf, aber gerade als der Lokalreporter sich einer möglichen Geschichte annehmen will, ist alles wieder flach und ruhig, als wäre nie etwas gewesen.

Das Phänomen "oder so" endet mit zwei Sequenzen, welche die Zeit sprengen und fast schon ein Fall für Einstein sind. In einem Altersheim spielt die Zeit keine Rolle mehr, weshalb eine Rollstuhlfahrerin nach einer kurzen Runde im Park wieder ins Gebäudeinnere verbracht wird, wo sie unendliche Runden dreht im zweiten Stock! Unabhängig von jeglichem menschlichen Zutun geht punktgenau ein Wecker ab, aber niemand weiß, wer ihn gestellt hat und vor wie langer Zeit. Vielleicht ist diese finale Geschichte eine Anspielung auf den Weltuntergang, der ähnlich einem Wecker gleich abgehen wird.

Martin Maier geizt nicht mit dem spielerischen Erzählmoment. Die einzelnen Gedankenschläge trommeln zwar wie ein Wittgensteinscher Tractatus auf die Leser ein, aber hinter allem blitzt jener Spieltrieb hervor, der einen früher als Kind überfallen hat, wenn man eines Tages die Bauklötze neu ausgelegt hat.

Helmuth [Schönauer] | Zum [Buch]


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