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Vom Abbild der Menschlichkeit im unberührten Schnee

Beim Überschreiten der Waldgrenze lasse ich die Straßen und Wohnhäuser hinter mir und betrete ein Reich, in dem die Zeit wie festgefroren scheint und in dem die Schneeflocken aus dem Himmel fallen wie Ziffern, die von einer himmlischen Taschenuhr abblättern.

Nach wenigen Schritten schreitet die alles in Watte umhüllende Stille ein und veranlasst mich, wie wenn sie das genau so wollte, dazu, abrupt stehen zu bleiben und den Kopf in den Nacken zu legen. Weiß, Weißgrau, Grau und noch mehr Grau, mein Blick geht im Abyss verloren.

Die einzelnen Schneeflocken fallen wie Federn lautlos zu Boden, werden eins mit der unberührten Schneedecke. Ein paar Hände voll Schnee fallen wie inszeniert vom höchsten Ast einer großen Fichte und zerstäuben, ehe sie den Boden erreichen, zu feinem, im Sonnenlicht glitzernden, Staub.

Der Schnee ist es, der diesen Spaziergang so besonders macht. Reines, vom Himmel gefallenes Weiß. In allen Farben leuchtendes, den Anschein der Einsamkeit erweckendes.

Manche Tannen tragen derart viel Schnee auf ihren Ästen, sodass diese unter der Last eine beeindruckende Biegung Richtung Boden vorführen. Knarzende Akrobaten. Erstarrte Wächter. Standhaft und wunderschön.

Ich setzte meinen Spaziergang fort und gehe stur neben den Fußspuren, die bereits da sind. Jeder Schritt ein Schritt ins Unberührte. Fast verboten fühlt er sich an, dieser Schritt. Avantgarde, jungfräulich und zerbrechlich, die zurückgelassene Spur endgültig, die unberührte Schneedecke unwiederherstellbar. Ein Abdruck in Form meines Schuhs zeugt von meinem Dasein, so als wolle er dem Universum in seiner Endgültigkeit klar machen: Ich war hier, kein anderer.

Der erneute Blick nach oben; das Schwarz der Baumstämme gegen das grelle Weiß des Schnees, eine Amsel findet lautlos ihren Platz zwischen den Ästen. Der Wald hält inne und genießt mit mir die Stille. Hört in mich hinein.

Ohrenbetäubende Vollkommenheit.

Nach einigen Minuten kommt mir eine junge Frau mit Husky entgegen, der von den momentanen Wetterbedingungen sichtlich erfreut ist. Man nickt sich wohlwollend zu, insgeheim aber bissig, denn jeder hat soeben des anderen Illusion der Einsamkeit zerstört. Die Menschen kommen und meinen, die Einsamkeit im Wald zu suchen, wobei es eigentlich nicht die Einsamkeit mit seiner Selbst ist, die sie suchen, sondern die Illusion dessen. Es ist eine sich selbst umarmende Einsamkeit unter den Ästen der wachenden Bäume, die auf jene wartet, die nicht in die Fußstapfen der anderen treten.

Und so ist es die Menschlichkeit, die mich dazu veranlasst, diesen Spaziergang festzuhalten. Das Bedürfnis nach Unberührtheit und das Herbeisehnen, diese zu zerstören. Wir reisen an unberührte Orte, um sie zu berühren. Wollen die ersten unserer Art sein. Und sei es auch nur der erste Fußabdruck im ersten Schnee des Jahres.

Der Wille, Pionier zu sein.

Leon [Sperrer]


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