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Wolfgang Kubin. 102 Sonette. | Rezension

Kubins 102 Sonette sind ein Lyrikband, den ich gern lese, denn er ist aktuell, etwas zwischen wahrer Liebe und Trug, zwischen "Blitzlichtern aus dem Paradies" und "beschädigtem Leben". Die Inhalte tauchen in der kontrollierten Form des Sonetts auf, wobei mit der Form bis hin zur Destruktion eigensinnig umgegangen wird. Zugleich findet der Autor Reime, die so paradox sind, dass sie gute Chancen haben im Gedächtnis zu bleiben. ‒ Doch kann man noch Sonette schreiben, die heutzutage eher außer Mode sind und die bereits Goethe, der sie für eine formale Spielerei hielt, derb verachtete, worin ihm Schiller weniger derb folgte?

Man kann, man muss es, um der allerorts fabrizierten schlechten und formlosen Erlebnislyrik sowie der unergiebigen Besänftigungs- und Valium-Lyrik zu widersprechen, die Konjunktur hat. Dichter, die Dichter und andere Gedichte kennen, werden auf einer anderen Ebene ansetzen, haben sie doch, so sei es erhofft, diverse meisterhafte Sonette im Kopf wie die von Edmund Spenser (1552-1599), vor allem die Amoretti (1595) sowie die Visions of the Worlds Vanitie (1591). Auch William Shakespeare (1564-1616), als Dramatiker von Goethe und Schiller verehrt, gehört zu den bewunderten Sonett-Dichtern: Sonnets (1609) bzw. SHAKE-SPEARES SONNETS, wie der genaue Titel des Buches lautet. Goethes Haltung ist freilich ambivalent; zwar kommt ihm die festgelegte Gedichtform zu formal, zu künstlich, zu pedantisch vor, doch der Weimarer schränkt das Urteil ein, indem er sich selber in der Sonett-Form versucht.

Das Sonett blickt auf eine lange Tradition zurück, nachdem es einst von Giacomo da Lentini (um 1210 bis um 1260) und besonders von Francesco Petrarca (1304-1374) mit dessen Gedichtsammlung "Canzoniere" (um 1350) in der Zeit der Renaissance in die Welt gesetzt wurde. Für oder gegen das Sonett war ein Streit, der sich später im Barock bis in die Goethe-Zeit und darüber hinaus hinzog. Das Sonett hat freilich durchgehalten. Ein großer Sonett-Dichter war Rainer Maria Rilke (1875-1926), dessen Die Sonette an Orpheus (1923) ein Beleg dafür sind, auf welch hochkarätige Weise die Sonettform von einem Modernen übernommen und abgewandelt werden konnte bis hin zur Auflösung der Form. Man könnte Stefan Georges gedenken, aber dessen komplizierte Künstlichkeit, die sich mit einem allzu elitären Bewusstsein verbindet, kommt bei einer Generation, die Bertolt Brecht kennt, eher schlecht an, obwohl Brecht die Sonettform gelegentlich selber respektlos anwandte. Besonders schlecht kommt das Sonett bei Robert Gernhardt (1937-2006) weg. Wolfgang Kubin, der die weitläufige Geschichte des Sonetts kennt, ist einen Schritt weiter, wenn er den hohen Stil mit Alltäglichem anreichert, das Widersprüchliche sucht und zugleich Sonett und Gegen-Sonett miteinander verbindet, was zu einem amüsant-paradoxen Leseerlebnis führt.

Wenn ein über 70-Jähriger (ultra settanta anni, wie man in Italien sagt) in dichterischen Schwung gerät, darf man annehmen, dass den Sonetten ein weitgefasstes Weltbild zugrunde liegt, in dem die Sprachbilder, die es ausdrücken, in Bewegung geraten. Weltbild? Bei Kubin bleibt es überschaubar, scheinbar, denn es hat etwas Kosmopolitisches an sich, selbst dann, wenn die Wahlheimat Rheinland, besonders die Ausläufer des Siebengebirges, der Ennert und die Holzlaer Seen in den Blick geraten. Zur Wahlheimat gesellt sich Wien als seelische und China als geistige Heimat. Da wird das, was in Deutschland gelten soll, gesprengt, sobald der Blick auf Du Fu (712-770) und auf andere chinesische Lyriker fällt, auch auf Gegenwartslyriker wie Bei Dao. Kurioserweise wird der Lyriker Kubin, was das Absurde, Verstellte und Verzwickte anbelangt, vom Erzähler Franz Kafka und dessen Figur Josef K. inspiriert. Die dichterische Haltung Kafkas scheint Kubin ins Lyrische zu übersetzen. Doch ein zweiter Einfluss kommt hinzu, das ist die Bildhaftigkeit und Ausdruckskraft Trakls, welche Kubin beflügelt. Prag und Wien scheinen sich die Hand zu reichen.

Mir gefällt das Widersprüchliche und Paradoxe in Kubins Sonetten, es entspricht der Realität, ohne der Tristesse allzu großen Raum zu geben. Umgekehrt stecken Lustprinzip, Heiterkeit und Anregung in den Gedichten. Der weitgespannte Blick, die Liebe zur Bildung, nimmt noch das sprachgewaltige Biblische in Anspruch, nicht unbedingt im Sinne der Religion, sondern im Sinn eines starken und kraftgeladenen poetischen Wortes. Sogar des Kusaners wird gedacht, gemeint ist ein Werk des Nikolaus von Kues (1401-1464) über das Sehen. Der Dichter und der Seher sind miteinander verwandt. Bei Cusanus ist es das 'Durchsehen'; was hinter den Erscheinungen liegt, soll erspäht werden. Der Kontext ist religiös. Freilich schenken wir der Schrift "De Visione Dei" (1453) keinen Glauben mehr, obschon wir den Humanisten gern ehren. Kubin ist modern genug, um zugleich Arthur Rimbauds zu gedenken, welcher der gesellschaftlichen "Verelendung" nicht widerstrebt, sondern diese auf sich nimmt, um danach sehend zu werden ("Seher-Briefe", 1871). Rimbauds "objektive Poesie", eine romantische Idee, wie sie schon von Friedrich Schlegel vertreten wurde, sucht in Wirklichkeit nach der Entgrenzung aller Sinne, um im "Unbekannten" anzukommen, fernab abgerichteter und in Wirklichkeit unmündiger, weil manipulierter, Massengesellschaften.

Und Flaneure, sind sie nicht auch Seher? Aber die Seher à la Walter Benjamin und Franz Hessel befassen sich mit der "Lektüre der Straße", sie sehen, was in der Welt ist. Dieses Prinzip hat sich in der modernen und in der postmodernen Literatur, in Prosa und Lyrik, durchgesetzt. Doch schauen wir auf den Gedichtband. Die Sonette wurden in acht Gruppen aufgeteilt: (1) Josef K. im Traum, (2) Alter und Ego, (3) Im Hügelland, (4) Cusanus und Cusana, (5) Die Wien und die Zeile, (6) Der Vormittag eines Poeten, (7) Der neue julianische Kalender und (8) Nachschlag oder die Pest. ‒ Barockes und arkadisches Idyll ist nicht mehr, das "beschädigte Leben" gewinnt an Breite, obschon die "Lichter der Paradieses" und der utopische Funke noch nicht zur Gänze erloschen sind und noch im Absurden aufblitzen.

Kubin ist poet critic genug, um mit einem "Sonett auf ein Sonett" zu beginnen. So heißt es in den Terzetten: "(…) mochte auch die Welt gerecht nicht spotten, / der Olymp weiter maßlos höhnen, // wir drohten nicht mit müßigen Boykotten, / lieber wandelten wir das Stöhnen in ein Versöhnen (…)." Dem Dissens (Stöhnen) einen Konsens (Versöhnen) abringen? Das bedeutet, dass in den Sonetten etwas geschieht, obschon das Versöhnen nach Adorno nicht mehr gelingen kann. Doch Adorno muss nicht recht behalten; Verwandlung und Veränderung sind beabsichtigt, auch wenn das Leben als beschädigt erscheint. Dass manche Sonette endzeitlich wirken und die Dystopie nahelegen, lassen Titel erkennen wie "Das Sonett der Reste", "Die Reste der Reste" und "Nachschlag oder selige Reste".

Und doch, da der Überlebenswille und der 'Dichtungstrieb' erhalten bleiben, nimmt die Stimmung in den Gedichten eine amüsant-paradoxe Färbung ein. Das verdeutlicht ein Blick auf die Reime. Da reimen sich Gnom auf Dom, Web auf vitae, im Nu auf mai fu, Joint auf Freund, Glanz auf once, Krankentreff auf IVF, dein Numen auf Plastikblumen, sanfter Gott auf zum Schafott oder Seelenbüro auf Gedankenzoo. Und der Fingerzeig reimt sich auf Myrtenzweig. Klingt doch virtuos, oder etwa nicht? Guter Stil und leichter Spott passen zueinander; die Stilisten und Spötter können nicht anders, sie sind so geboren, nein, sie sind so geworden. Doch in der Poesie lässt sich avanciertes gegenläufiges Bewusstsein erkennen, zumal Politik und Medien das sogenannte 'kritische Bewusstsein' selber vorzugeben versuchen. Dem, freilich, widersetzen sich die Dichter, auch Kubin mit seinen hier vorgelegten Sonetten.

Zwar schäumen Kubins Reime in den Quartetten und Terzetten, doch die Verse sind keineswegs glatt gebaut. Zuweilen kommen sie sperrig daher, denn gemächlich fließende Alexandriner sind es nicht. In "Vormittag eines Poeten" wird nichts zur reinen Musik wie einst in den Sonetten Mallarmés. In der letzten Gruppe der Sonette Kubins "Nachschlag oder die Pest" heißt es in "Die Reime und ihr Rest" in den Terzetten, welche die Pointen setzen, auf verstörende Weise: "Da steht es schlimmer noch mit dem Sonett, / da liegen KZ und Lazarett, des weiteren Klosett, der Toten Bankett. // Ist daher uns der Reim ein mattes Kind, / welches wir führen wie durch ein Labyrinth, / suchen angefressen nach Klinge und Schlinge?"

Die Welt des Sonetts teilweise in Trümmern, das entspricht dem 'katastrophilen Komplex' (Sloterdijk) und einem Weltbild, in dem die Dystopie die Utopie ablöst. Kein biblisches Licht trotz alt- und neutestamentarischer Zitate? Keine plötzliche Erleuchtung, keine "Himmelszinnen" mehr wie einst bei Petrarca? "Greifen wir lieber blind zum letzten Absinth", lautet der letzte Vers, die letzte Botschaft im Sonett "Nachschlag". – Und doch gibt es ein 'poetologisches Wunder', das Dichten selber hält aufrecht, die Stimmung beruhigt sich im Vers und Gegen-Vers. "Lyrik als Tankstelle", Kubin greift diese bei Joachim Sartorius gefundene Metapher auf. Dem Berliner Freund, auch anderen, sind mehrere Sonette gewidmet. Schließlich stellt sich die Frage, warum überhaupt 102 Sonette? Der Bergmann Stachanow (1905-1977), so Sartorius in einer Mitteilung an Kubin, soll allein an einem Tag 102 Tonnen Kohle gefördert haben. Eine beeindruckende Leistung. Der Arbeit im Stollen mag die dichtere Bearbeitung des Unbewussten entsprechen. Warum also nicht 102 Sonette schreiben, selbst wenn es ein Jahr dauert, sie zu fördern? Nach einer alten Vorstellung ist auch der Lyriker ein 'Bergmann', dem der ein oder andere glänzende Fund gelingt.

Liebe und Lust als Movens prägten einst Petrarcas Vers: "Lust spornet mich; Amor voraus mir ziehet; / Vergnügen lockt; Gewohnheit mich umschnüret; / Hoffnung schmeichelt und tröstet und berühret / Mit ihrer Hand mein Herz, das matt verglühet (…)". Davon bedarf es auch im 21. Jahrhundert so einiges, nicht nur in der Dichtung, sondern im wirklichen Leben. Oder waren die Alten in geistiger und in mentaler Hinsicht weiter als die Neuen? Doch Kubins Vers kennt seinerseits eine beruhigende Ader, die vermehrt zum Tragen kommt, wenn er nach Ostasien blickt, zum Beispiel in "Fernes Sonett nach chinesischer Art". Im zweiten Terzett heißt es: "Damit in meiner Not auch ich so still mich gürte, / mag ich an Du Fu denken und seinen letzten Brief, / da eine Nacht um Hilfe und das Leuchtfeuer rief."

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Wolfgang Kubin. 102 Sonette. 131 Seiten. Berlin: PalmArtPress, 2022, ISBN 978-3-96258-104-6

Wulf [Noll]


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