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Frieden kriegen

Offenbar sind Kriege eine Geißel, die uns in die Wiege gelegt worden ist, oder anders gesagt, eine Marter, die uns seit der frühsten Menschheitsgeschichte befallen hat. Und leider sind und waren fast immer religiöse Auseinandersetzungen die Ursache davon. Aber die Religionen deshalb einfach abzuschaffen, würde das Problem nicht lösen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen liegen uns im Blut.

Es gibt sogar Menschen, die freiwillig in einen Krieg ziehen. Eine nicht zu geringe Zahl von Internationalen Söldnern hat sich zum Beispiel im Krieg zwischen Russland und der Ukraine engagiert. Etliche von diesen Kämpfern – egal auf welcher Seite sie stehen - sehen darin eine Art Aufwertung ihrer Existenz, weil sie hoffen, mit ihrem Engagement ihrem Leben einen Sinn geben zu können. Vielleicht sind es ohnehin Sinn und Bedeutung, wonach die Menschen süchtig sind.

Am Beispiel der islamischen Kulturen ist leicht erkennbar, dass es vor allem die Religion ist, die Sinn und Bedeutung für die Menschen stiften kann. Zum Teil bekommen die Extremisten, welche sich dem gewaltbereiten Dschihad verschrieben haben, auch Zulauf von Kämpfern aus westlichen Ländern. Man kann sich fragen, warum? Ist diesen "Überläufern" der eigene Glaube nicht groß genug, im Sinne von bedeutungsvoll genug? Oder ist er ihnen vielleicht nicht kriegerisch genug? Unweigerlich denkt man an die Kreuzzüge des Mittelalters, die aus der männlichen Bevölkerung einen ungeheuren Zulauf erfahren hatten. Ist es das, was auch heute noch die Jugendlichen bei uns im Westen dazu bringt, sich für den Dschihad zu engagieren: das Streben nach Sinn und Bedeutung? Denn zumeist handelt es sich bei den erwähnten Jugendlichen um solche, die in unserer westlich orientierten Gesellschaft weniger erfolgreich sind, in deren Leben es demzufolge an Bedeutung und Sinn fehlt.

Man mag darüber denken wie man will, aber die Sehnsucht nach einer irgendwie über diesen Jugendlichen stehenden und sie beschützenden Instanz, ist groß. Diese Instanz braucht nicht immer religiös zu sein; auch politische Vereinigungen und/oder manchmal auch mafiöse Organisationen dienen diesem Zweck. Je intensiver sich Menschen in einen größeren organisatorischen Zusammenhang eingliedern, desto bedeutsamer und "aufgehobener" fühlen sie sich. Nicht selten beziehen sie ihre Identität über die Größe und Macht jener Instanz, der sie angehören. Dass es dabei immer wieder zu Rivalitäten und Streitereien – auch Abspaltungen und der Bildung von Untergruppen - kommt -, liegt auf der Hand.

Das Fatale aber ist: Je mehr wir uns von einem solchen Szenario wegen seines Gewaltpotentials distanzieren und lieber ins Private, wo es im Übrigen ebensolche Rivalitäten gibt, abdriften, desto mehr erfahren wir die Missachtung all derer, die für ihre Religion, "ihr Land" oder für was auch immer, ihr Leben riskieren oder es gar opfern. Wenn sie etwas aufs Spiel setzen, dann ist es im Gegensatz zu den "Privatisierenden" wegen einer "größeren" Sache und nicht wegen privatem Kleinkram. Das Fehlen von sinnstiftender Bindung – so ihr Vorwurf – wird mit der Sucht nach Konsum und der Anhäufung von Geld kompensiert. Wer z.B. in den ehemaligen sowjetischen Republiken von Jeans und schicker Mode träumte, galt schon als dekadent und wurde als Bourgeois beschimpft.

Im vormals kommunistischen System der Sowjetunion, von dem man annahm, dass es den Glauben an Gott überflüssig gemacht habe, hat die russisch-orthodoxe Kirche kaum mehr eine Rolle gespielt. Im Kommunismus haben die Menschen seit etlichen Jahren das gesehen, was sie vormals in der Kirche gefunden hatten. Sowohl Russland wie eigentlich das gesamte östliche Europa stehen nicht mehr unter dem Banner des Kommunismus, aber haben die Menschen nun ihren Glauben an Gott zurückgewonnen? Oder anders gefragt: Was haben sie überhaupt gewonnen? Sind es die heiß begehrten Jeans und die größere Auswahl an Sorten von Wurst?

Eine der Frauen, die Swetlana Alexijewitsch – selbst Autorin aus Belarus - interviewt hat, lässt keinen Zweifel daran, dass sie enttäuscht ist vom Zusammenbruch des kommunistischen Regimes, dass sie aber auch nicht weiß, was sie an dessen Stelle setzen soll. Der Konsum allein kann es in ihren Augen nicht sein.

Spätestens, wenn die alten Strukturen in einem gesellschaftlichen Gefüge auseinanderbrechen, sollte man sich fragen: Was ist es eigentlich, das eine Nation oder einen Staat zusammenhält? Was ist das einigende Band, das immer wichtiger wird je größer und vielfältiger eine Gesellschaft ist?

So wie es aussieht, hat zwischen Russland und der Ukraine zurzeit das Trennende die Oberhand. Man kann dabei nicht außer Acht lassen, dass die Wunde, die Stalin damals in der Ukraine mit dem Holodomor geschlagen hat, noch lange nicht verheilt ist. Noch immer gibt es große Teile der ukrainischen Bevölkerung, die von Hass gegen Russland erfüllt sind.

Wie man weiß, hat Russland Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung angestrebt, um über die Zukunft des Donbass zu diskutieren. Dass die dort lebende russischstämmige Bevölkerung sich nicht mehr wohlfühlen konnte, liegt auf der Hand. Sollen sie vielleicht jubeln, wenn man ihre russische Sprache diskriminiert und wenn ihr Wohlstand weiter sinkt? Diese Verhandlungen, die in den Minsker Abkommen vorgesehen waren, sind leider nicht realisiert worden, stattdessen Gefechte im Donbass, schon damals ein "Krieg im Kleinen".

Feststeht, dass Russland am 24.2. diesen Jahres wieder einmal Fakten geschaffen hat, wie schon 2014 mit der Annexion der Krim, die ursprünglich Russland gehört hatte. So nachvollziehbar die Interessen Russlands auch sein mögen – auf der Krim befindet sich sein Marinestützpunkt - , es rechtfertigt nicht seine immer brutaler werdenden Bombardierungen ukrainischer Städte. Ich will jetzt nicht im Einzelnen auf die Etappen dieses Krieges eingehen, in dem schon viel zu viele Menschen – und zwar auf beiden Seiten – ihr Leben verloren haben. In der Zwischenzeit wird immer klarer, dass dieser Krieg ein Stellvertreterkrieg geworden ist. Denn letzten Endes stehen sich nicht mehr Kapitalismus und Kommunismus gegenüber, sondern Demokratie und Autokratie.

Noch hat Putin den Großteil der Bevölkerung Russlands hinter sich, weil er sie mit ausgesuchten Informationen und Lügen abspeist und ihnen das gibt, was sie sich wünschen, nämlich ein einigendes Band, das auf dem Stolz über den einstigen Ruhm der Sowjetunion beruht. Ein einigendes Band, das vielen die Sicht versperrt.

Aber auch auf der westlichen Seite gibt es Geschlossenheit und die gemeinsame Überzeugung, dass der Krieg mit der Ukraine zugleich ein Krieg mit der westlichen Welt geworden ist.

Leider gibt es noch immer genug Menschen, die der Meinung sind, dass sich dieser Konflikt nur auf die übliche Art und Weise lösen lässt, nämlich durch Sieg und Niederlage. Je mehr aber die Ukraine mit Lieferungen von Waffen aus dem Westen unterstützt wird, desto länger wird es dauern, bis eine Entscheidung getroffen werden kann. Aber ich glaube nicht, dass es einen eindeutigen Sieger geben wird, jedenfalls nicht so schnell.

Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück: Was Russland in diesem Krieg mit der Ukraine in erster Linie will, scheint klar, nämlich endlich wieder einen gesicherten Landzugang zu seinem Marinehafen auf der Krim.

Genau das scheinen die Ukrainer durchschaut zu haben und fühlen sich deshalb bedroht. Ihr Bestreben um die Aufnahme in die NATO ist also durchaus nachvollziehbar. Ebenso ist zu verstehen, dass für Russland das Näherrücken der NATO ebenfalls eine Bedrohung darstellt, vor der es sich schützen will. Trotz aller Appelle an Putin, den im Februar begonnenen Krieg zu beenden, ist Russland in seinen Aggressionen sogar noch brutaler geworden.

Mit anderen Worten: Der Krieg ist schon seit Monaten in vollem Gange und die Welt steht auf dem Kopf. Es hagelt Sanktionen in einem fort, Sanktionen, die nicht nur Russland treffen. Jetzt fühlen sich plötzlich alle bedroht und wollen nicht nur unter das Dach der EU sondern auch in das Schutzbündnis der NATO. Russland, so heißt es, sei unberechenbar geworden, und wolle wieder zum Ruhm der alten Sowjetmacht zurück. Nach allem, was einem zu Ohren kommt, scheint das sogar zuzutreffen. Kürzlich hatte Putin sogar von dem alten Zarenreich Peters des Großen gesprochen, das er für Russland wieder herstellen wolle. Wie es heißt, ist er schon dabei, an der belarussischen Grenze zu Polen Raketen aufzustellen. Was für eine Drohgebärde!

Ich glaube aber, das Problem sitzt tiefer, und zwar jenseits aller Kirchen und Religionen oder nur politischen Systeme. Ich denke, wir müssen noch viel weiter zurück und begreifen, dass uns der Streit sozusagen schon in die Wiege gelegt worden ist. Der Krieg war und bleibt eine archaische Kraft, die wir verstehen müssen. Wie sollte man sonst in der Lage sein, sie zu zügeln? Wieso also archaisch? Wieso war der Streit von Beginn an vorhanden?

Am Anfang ist das Kind, die Prinzessin oder der Prinz. Dann kommt plötzlich der Bruder oder die Schwester und schon ist das Erstgeborene gezwungen, die Liebe und Zuwendung seiner Eltern zu teilen. Die Geschichten vom Kain und Abel, von Romulus und Remus oder im Islam von Kabil und Habil usw. zeigen uns, dass diese Rivalitäten nicht immer friedlich ausgegangen sind. Im Allgemeinen ist für das Erstgeborene die Ankunft eines neuen Geschwisterkindes die erste Möglichkeit, sich als ein Individuum unter Individuen zu begreifen oder als Rivale unter Rivalen. Vermutlich ist der Streit aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung entstanden. Das "Ich" will sich vom "Du" abgrenzen, indem es Stärke demonstriert. Und da man schon zu diesem Zeitpunkt – im Vorbewussten sozusagen - begreift, dass die Stärke wächst je mehr sie die Zustimmung von anderen erfährt, sucht man sich Freunde, Gleichgesinnte, eine Peer-Group sozusagen. Auf diese Weise werden auch Armeen und Allianzen zusammengestellt. Immer ist damit der Versuch verbunden, Stärke und Macht zu demonstrieren, im Großen wie im Kleinen. Auch dann, wenn wir darüber hinaus diese vermeintliche Stärke nicht "nur" mithilfe von "Followern" aller Art dokumentieren, sondern mit materiellen Attributen wie einem imposanten Auto, einem schönen Haus etc. Immer geht es darum, sich selbst mithilfe von anderen oder von etwas anderem – seien es materielle oder geistige Werte - aufzuwerten, um stärker zu erscheinen und um damit eine gewisse Macht oder auch Souveränität zur Schau zu stellen. Immer versuchen wir, das, was wir erreicht haben, zu vergrößern. Schon als Kind zeigt sich das beim Spiel mit den Bauklötzen: Je höher, desto besser. Und wenn der Turm zusammenstürzt, bauen wir ihn eben wieder auf. Für sich gesehen, ist diese Ausdauer auch bewundernswert.

Kurzum: Es ist das Wachstum, dem wir huldigen. Es sind die Superlative, die wir verehren wie einst die Götter auf dem Olymp oder sonst wo in den heiligen Gefilden der Religionen dieser Welt… So wie es aussieht, brauchen wir tatsächlich keinen Gott mehr und keine Kirche, aber wir brauchen das Wachstum und damit verbunden die Macht. Von der wir glauben, dass sie wächst und gedeiht mit der Anzahl der Menschen, die wir auf unsere Seite ziehen. Aber Achtung!

Irgendwann zählt nur noch die Stärke der Bündnisse, die ein Land eingegangen ist. Aus Erfahrung wissen wir, dass gerade diese Bündnisse oftmals fatale Folgen haben können. Die Suche nach Gleichgesinnten, auch wenn sie unter dem Vorzeichen der Schutzsuche geschieht, sie kann sich schnell zu einer Kettenreaktion entwickeln. Verteidigung und Angriff gehen ineinander über. Die Lage ist vertrackt.

Gesetzt den Fall: Irgendjemand würde es schaffen, die gesamte Menschheit – wie auch immer - gleichzuschalten, was würde daraus folgen? Auf jeden Fall: Eine Gegenkraft, die versuchen würde, sich mit aller Macht aus diesen Fesseln zu befreien. Denn als Fessel würde diese Gleichschaltung früher oder später immer empfunden werden. Und was sind kriegerische Auseinandersetzungen anderes als eben jene Versuche, sich aus Fesseln, sprich Macht, zu befreien oder auf der anderen Seite, einen Machtzuwachs durchzusetzen oder die Macht zu erhalten? Demnach wären sämtliche Kriege Kämpfe um Freiheit und Macht. Aber, wissen wir das nicht schon längst? Wir drehen uns im Kreis.

Wäre es da nicht besser, wir lernten, mit dieser kriegerischen Streitlust umzugehen und zu durchschauen, warum sie plötzlich verstärkt auftaucht und welche Verlustängste oder Bedeutungslücken ihr zugrunde liegen? Ich finde, wir sollten versuchen, den Krieg zu zivilisieren, so grotesk sich das anhören mag.

Grundsätzlich muss uns klar sein: Jede Kultur beansprucht für sich die Bedeutung und Wertschätzung ihres Tuns und ihres Denkens einschließlich ihrer Ideologie. Letztlich sind es doch meistens grundsätzlich hehre Ziele, die man meint zu verfolgen. Klar sollte aber auch sein: dass sie sich nie wirklich zufriedenstellend umsetzen lassen. Überall gibt es Anlass zu Kritik. Das eine mag hier besser gelungen sein als das anderswo, aber letztlich sind es auf allen Seiten nur Visionen oder Versuche, das Leben in einer Gemeinschaft für möglichst viele lebenswert und bedeutungsvoll zu gestalten. Hierüber ließe sich noch lange diskutieren.

Ich bin kein politisch denkender Mensch, aber begriffen habe ich, dass es die Macht ist, die wir anbeten, und zwar die Macht mit ihren vielen unterschiedlichen Gesichtern. Je größer sie uns erscheint, desto ehrfürchtiger sind wir. Die Macht ist unser Gott, die Macht ist das goldene Kalb, um das wir tanzen. Könnte es uns helfen, wenn wir - egal, in welchem System wir leben - das Kalb weniger golden sähen? Und wenn es uns gelänge, seine dunklen Seiten nicht nur bei anderen, sondern auch in uns selbst zu erkennen.

Wenn wir darüber hinaus darauf verzichten würden, die Anderen unbedingt ins eigene Lager ziehen zu wollen, wären wir vielleicht schon einen Schritt weiter bei dem Versuch, uns doch noch von der Geißel zu lösen.

Hedi [Schulitz]


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