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Geh nicht fort

Die Stimmen holen uns ein. Das Boot wartet. Wartet und tanzt. Tanzt im Atem der Strömung. Atem dunklen Wassers, dem es flussaufwärts nacheilt, sich querlegt und auf das andere Ufer zusteuert, als wäre je und je erreichbar, was immer wieder verlassen wird.

Der Fluss ist wie ein Meer. Seine Ufer verschwimmen im Dunst. Der Motor des Bootes dröhnt über dem Schweigen der Passagiere.

Wir sehen uns an. An und wieder fort. Der Motor wird leiser und leiser. Er erstirbt. Wir hören das Schlagen der Wellen an den Bootskörper.

Die Passagiere springen auf den schmalen Holzsteg. Das Boot wartet. Nie werden wir mehr wissen vom Warten auf den Anderen noch wissen vom Warten überhaupt als in diesen Augenblicken. Die Passagiere tauchen in der sich rasch verlaufenden Menge unter. Nichts ist da als die Gesichter der Fremden. Vielleicht noch, während wir den Kopf heben, diese leise Stimme der Verlassenheit. Nichts sonst.

Die schmalen Korridore zwischen den Häusern liegen übersonnt und leer. Staubwirbel wachsen. Auf den Wegen schläft ein blasser Aschehauch.

Wir sehen uns an. Noch einmal. Der Wind zerteilt die Luft mit kurzatmigen Stößen. Komm, sagst du. Komm, und der Staub fliegt auf unter raschen Schritten. Sand beißt in den Augen. Wir blinzeln. Irgendwo eine weiße Mauer im Licht. Ein kopulierendes Hundepaar vor einem Denkmal. Die Wege sind menschenleer. Schmetterlinge treiben satinschimmernd durch die Luft.

Wenn doch jemand käme. Ich weiß, dass du das denkst. Auf den bleichen Mauern kleben die Schatten windstiller Tage. Sie werden in ihren Häusern sein. Dort sind sie immer. Es ist kühl dort und es riecht nach feuchter Baumrinde und nichts gehört dort einem anderen als einem selbst. Der Wind weht mir deine Haare ins Gesicht. Ein Stück weiter die Straße hinauf liegt eine Schrittlänge mehr zwischen uns.

Ich erinnere mich an dein Lachen. An vieles andere noch.

Wir sind wieder am Fluss. Plötzlich bleiben wir stehen. Aus einem der Häuser dringt ein langgezogener Schrei. Dann noch einmal. Echo aus Angst und Entsetzen. Schließlich ist es still. Wir halten den Atem an. Die Läden vor den Fenstern sind überall geschlossen. Unruhig tasten unsere Blicke über die Hauswände. Ich fühle Schweiß auf meiner Haut. Dein Gesicht ist blass. Was nur. Komm, sagst du. Komm.

Wir hasten vorwärts durch winklige Gassen. Die letzten Häuser am Fluss. Bar leuchtet es auf einem meergrünen Schild. Die Tische draußen auf der Veranda stehen leer. Ein paar junge Männer sitzen schweigend am Fenster. Der Wirt preist seinen Kaffee. Wir nicken.

Unten am Fluss waschen wir uns die Hände. Im Wasser begegnen sich unsere Blicke. Wir starren noch darauf, als die Abstände der Wellen immer kürzer werden. Das Boot ist längst vorüber. Lichtstümpfe, von leichtem Wind bewegt, zerfallen über den Fluten, Hauch des nahen Regens. Regen, sage ich. Du nickst. Lange Wolkensäume überschatten das Hochland. Denk einmal. Wie Licht in der Nacht, steingewordenes Licht, Licht, wenn wir unterwegs waren. Ja, sagst du.

Der Wirt ruft. Wir hören die Männer lachen. Dicht über dem Wasser tanzen die Schwärme der Insekten. Wenn sie über dem glasigen Dunkel verharren, bricht sich das Licht auf ihren Flügeln. Unablässig. Tanz und Verstummen, Verstummen und Tanz. Und plötzlich ist da diese Musik. Der Wirt lacht. Musica, schreit er. Es ist eine traurige Musik in einer fremden Sprache. Sie hallt über den Fluss, und wir schauen uns an und jeder denkt, ich bin der, der wartet.

Der Flusswind streicht über die Veranda. Einmal, einhalbmal, bevor er in den blassen Weiten um uns zu Dunst und Hauch ermattet. Die Luft ist regenschwer. Worauf warten wir? Das Gespräch der Männer verstummt. Der Wirt stellt die Musik lauter. Wir wären sonst im Schweigen. Dabei bräuchte ich mir nur etwas auszudenken. Ein oder zwei Sätze leichthin zwischen deine geschlossenen Lippen gestellt. Du würdest reden, wann immer ich es möchte. Weil du eines Tages aufgehört hast, fremd und anders zu sein. Ich habe dich verwandelt. Deine Nähe ist meine Gegenwart. Mir gehören dein Lachen und dein Weinen. Mir gehört das Lächeln auf deinem Gesicht, wenn du schläfst. Mir gehört dein Schweigen. Mir gehören deine Worte und deine Sätze. Mir gehört, was dir gehört.

Wir nippen am Kaffee. Immer wieder streifen unsere Blicke über den Fluss. Woran denkst du? Du schüttelst den Kopf. Ich zähle die Sommersprossen in deinem Gesicht. Starr mich nicht so an. Dabei starren wir uns beide so an, als wären unsere Gesichter uns abhanden gekommene Orte. Wie vordem, so fremd und unvertraut.

Kaffee? Die massige Gestalt des Wirts hat sich vor uns aufgepflanzt. Wir nicken. In der Aufwärtsbewegung unserer Köpfe trifft sich unser Lächeln. Ein einziges Mal noch.

Und in diesem Moment schauen wir auf den Fluss. Das Gewitter ist nah. Sein Windschnitt verharrt wie flüssiges Silber auf dem Wasser. Langsam, in einer schattenhaften Bewegung, taucht der Delfin aus den Fluten. Einmal, zweimal, die anderen Male eine blaue Bahn in den Wellenschlag zeichnend. Vorbei. Nie war das anders. Erinnerst du dich noch? Ein Bild unter unruhig flackernden Lidern, aufgeregt gestikulierenden Händen: Da. Nein, dort. Ich habe ihn zuerst gesehen. Da. Die Männer lachen.

Auf einmal ist es ganz still. Rückwärts geht das. Lange Zimmerfluchten an einem Regentag. Ich bin allein. Es rauscht leise. Das Das Glas ist dunkel von Regenseide, und wenn ich die Augen schließe, höre ich deine Stimme, wie man eine Stimme hört, wenn mannicht mehr allein sein kann. So eine Stille.

In einem wolkigen Strohgelb legt sich der Gewitterdunst über den Fluss. Komm noch einmal. Noch einmal.

Er ist fort, sagst du. Du trinkst den Kaffee in langen, hastigen Zügen. Wir könnten noch bleiben. Du zählst das Geld auf den Tisch. Aufstehen und gehen. Die Männer starren uns nach.

Auf dem Sandschiefer der Gassen knirschen unsere Schritte. Die Menschen sind aus ihren Häusern gekommen. Sie schauen nicht auf. Es ist, als würden sie auf etwas warten. Der Schattenriss des Gewitters senkt sich über die Dächer. Du hastest zur Anlegestelle, ich hinterher. Das Boot ist fort.

Sie müssen warten. Ein alter Mann weist auf das gegenüberliegende Ufer. Im Gewitterdunst sieht man nichts. Fünfzehn Minuten, sagt er. Fünfzehn Minuten, und der Wind hat plötzlich einen kalten Atem. Du schlingst die Arme um deinen Körper. Mir ist kalt. Ich deute eine Bewegung an. Du schüttelst den Kopf. Wir laufen hoch zu der Dorfhalle. Von dort aus würden wir das Boot hören.

Die Mauern sind mit Plakatresten überklebt. Aus den Türritzen schlägt uns Modergeruch entgegen. Ich blicke hinüber zum Fluss. Das Boot. Deine Stimme: Du? Nichts. Nichts ist da, was mit Bestimmtheit zu benennen wäre. Nur so ein Gefühl. So ein Weitfort, das über einem zusammenschlägt, sobald man die Augen schließt. Wieviele schlaflose Nächte? Wann hast du mich zuletzt geküsst? Du?

Das Boot ist noch weit, doch du rennst hinab, als würde nie wieder eines fahren. Am Steg hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Ich beobachte ihre Schritte. Schritte, die das Hiersein leugnen. Auf und ab. Auf und ab, wie eine zerhellte Collage stummer Tänze. Wie du und ich. Nicht hier, nicht dort.

Warten: Der Schatten des Zunächst in der Gegenwart. Man wartet.

Schiffe. Züge, Autobusse und Flugzeuge, die zu festgelegten Zeiten festgelegte Orte verlassen. Man wartet. Auf einen Anruf. Einen Brief. Das Essen im Restaurant. Das Geld aus dem Bankautomaten. Den freien Parkplatz. Eine Antwort, ein Lachen; den Anderen. Man wartet immer.

Das Boot nähert sich dem Ufer. Es beginnt zu regnen. Zwischen uns fühlt es sich anders an. Anders, als nur auf ein Boot zu warten. Regen, sagst du. Aber du lächelst nicht. Schwere, überglaste Tropfen, die zögernd hinabfallen. Niemand flüchtet. Das Boot ist zu nah. So stehen die Passagiere, wehrlos Wartende, unter dem Überwurf des Regens, als der schmale Bootskörper sich schließlich knirschend am Holz des Piers reibt. Eine alte Frau klettert auf den Steg. Hastig schlägt sie mit den Fingern ein Kreuz. Der Bootsmann winkt. Er mahnt zur Eile. Das Boot tanzt auf dem Wasser. Mühsam balancierend tasten sich die Passagiere zu den Holzbänken. Das dünne Stoffdach hält den stärker werdenden Regen kaum ab. Der Bootsführer scheint noch auf jemanden zu warten.

Fahren Sie, fahren Sie!, herrscht ihn ein älterer Mann an. Er dreht den Motor höher. Aber noch immer macht er keine Anstalten, zu starten. Er kratzt sich am Genick. Auch die anderen Fahrgäste zeigen ihren Unmut.

Unversehens legt das Boot ab. Alle klammern sich irgendwo fest. Der Fluss ist ein blasser Raum. Unwirklich und fern die Kreidestriche der Blitze am Himmel. Regen und Gischt fassen uns an den Schultern.

Ein Mädchen schaut mich an. Ihr Blick ist ernst und ruhig. Manchmal lächelt sie.

Es ist nicht auszumachen, in welche Richtung das Boot steuert. Dein Blick ist der gleiche wie im Café. Ich weiß, woran du denkst. Plötzlich der helle Ton aufgeregter Stimmen. Das Ufer ist nah. Es scheint, als fielen die Stimmen mitten aus dem Strom. Der Bootsmann flucht. Er versucht das Boot zu wenden. Ein Mann herrscht ihn an. Erregt weist er auf das aufgewühlte Wasser. Die Strömung reißt das Boot mit sich.

In ruhigeres Fahrwasser gelangt, schafft es der Bootsführer, das Boot in Richtung des Ufers zurückzusteuern. Es ist eigenartig still. Ein flaches, saugendes Atmen lässt uns aufhorchen.

Eine riesige Welle stürzt über den Bootsrand. Der Motor stottert. Es summt in den Ohren. Jemand schreit. Wieder bricht sich eine Welle am Bootskörper. Dann wieder und wieder. Ich schnappe nach Luft. Der Kahn dreht sich. Einige Passagiere fangen an, Wasser zu schöpfen. Das Gewitter tobt über der nachtgrauen Finsternis aus Wind und Wellen. Langsam steuert das Boot gegen den Strom. Ängstlich geduckt kauern die Fahrgäste auf den Bänken. Das Wasser schwappt uns an die Beine. Ich spüre deine Hände in meinen. Sie sind kalt. Ohne dich anzusehen, weiß ich um die Angst in deinem Gesicht.

Das Mädchen lächelt mich unverwandt an. Hilflos blicke ich zur Seite. Langsam nimmt der Kahn wieder Fahrt auf. Der Regen schlägt uns ins Gesicht. Einem schwimmenden Blatt gleich verharrt das Boot auf der Flussdünung. Ich habe jede Orientierung verloren. Zeit, zerfallender Bogen im Kreis. Eine vorübergehende Tönung der Mondbahn. Wie anders könnte es sein, liegt doch das Ufer mit einem Mal vorwärtig, als hätten wir es niemals verlassen. Ein Wogenschlag, und das Boot stößt knirschend auf den Ufersand, nur wenig entfernt von der Anlegestelle. Die Passagiere springen in das flache Wasser. Gebete und Danksagungen werden gemurmelt. Mit unsicheren Schritten stakse ich im Sand umher. Das Mädchen geht an mir vorüber. Sie lächelt. Ich sehe ihr nach. Ihr Gang ist schwerelos, leicht und schwerelos, als sei sie gar nicht da. Der Stoff klebt auf meiner Haut.

Komm, sagst du. Die Straßen haben sich in schlammige Bachläufe verwandelt. Müllberge ragen auf. Drei Querstraßen weiter liegt unser Hotel. Ich zähle mit. Eins. Zwei. Drei. Niemand von uns spricht. Ich denke an das Mädchen. An gleich. An das Mädchen. An das stumme, stumme Warten. Es beginnt mit dem Duschen. Wer zuerst? Du ziehst dich aus. Im Fenster spiegelt sich dein nackter Körper. Ein dünner Bildstreifen im Glas. Meine Finger fahren noch darüber, als nebenan das Rauschen des Wassers längst alles übertönt. Das Glas ist durchlässig. Ich spüre noch immer den Regen auf meiner Haut. Oder was.

Es ist Abend. Im Restaurant laufen die Kakerlaken über den Boden. Ameisenstraßen färben die Wände mit schwarzen Strichen. Dabei ist es das beste Restaurant im Ort. Du isst nichts. Du schweigst. Das Pflaster draußen auf der Promenade am Fluss ist noch feucht. Von den Fenstern der Häuser fallen graue Lichthöfe auf das Wasser. Als wäre nichts geschehen. Weißt du noch?

Im Hotelzimmer sitzt du noch lange am Fenster. Es wird Nacht. Ich schlafe, wache, schlafe. Wie im Traum sehe ich dich schlaflos am Fenster sitzen. Du weinst. Es geht mich nichts mehr an. Ich höre dich auf den leeren Platz neben mir ins Bett kriechen. Es ist dunkel und kalt. Ich weiß, du frierst. Du schläfst ein. Du wirst mich verlassen, wenn du schläfst. Ich werde es nicht merken.

Um acht Uhr dreißig gibt es Frühstück. Du wirst deinen Kaffee trinken und deinen Toast essen, aber du wirst nicht mehr da sein. Um neun Uhr fünfundvierzig wird der Bus die Stadt verlassen. Du wirst neben mir sitzen, aber nicht mehr so wie früher. Um sechzehn Uhr dreißig wird der Bus in der Hauptstadt eintreffen. Du wirst sagen: Endlich, und dein Gesicht wird müde sein.

Du schläfst. Manchmal berühre ich im Traum dein Gesicht: Geh nicht fort. Wenn ich erwache, zähle ich die Sekunden. Drei, zwei, eins. Ich öffne die Augen. Alles ist dunkel. Die Stimmen haben uns eingeholt.

Daniel [Mylow]


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