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Top of Europe. | Schweizer Reise, erster Teil

Flanieren und fliegen passen zusammen; erst fliegen, dann flanieren … Wir reisten zu viert: Tomomi, die Schwester meiner Frau, der Ehemann der Schwester Hiroshi, Midori, meine Dauergeliebte und Ehefrau, sowie ich als ›Gastpoet‹ meiner japanischen Familie ... Man will mich beim Reisen nicht nur in chinesischen Händen belassen … :) Japaner und Chinesen haben allerdings mehr miteinander gemein, als beide zugeben. Mentalitätsmäßig sind sie viel leichter und lockerer drauf als meine Landsleute. Das wirkt beruhigend. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich letztere, die zumeist unzufrieden sind und an einem ›dunklen‹ Weltbild leiden, das aus dem 20. Jahrhundert stammt, in geistig-mentaler Hinsicht einige emanzipatorische Schritte unternähmen und sich mit oder ohne Nietzsche, am besten aus sich selbst heraus, auf ein fröhliches und entspanntes 21. Jahrhundert einstellen könnten.

Ostasiaten blicken gerne auf Europa, doch ob Europa ein Vorbild ist, kann bezweifelt werden. Wenn irgendwo doch, dann wohl in der Schweiz oder in Skandinavien. Reisen bringt andere Gedanken, Erlebnisse und Erkenntnisse mit sich; wir wollen die Schweiz erkunden. Auf dem Flughafen in Zürich angekommen, stiegen wir in den Zug nach Bern um. Als junger Mann war ich durch die Schweiz gereist, ohne ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie lag zu nahe an Deutschland und Österreich. Mein Interesse sollte sich ändern. Mit den Augen meiner japanischen Frau und ihren, nein, unseren Verwandten fiel der Blick auf Europa freundlicher aus. Zürich als Stadt wirkte vom Zugfenster aus allerdings hässlich. Man sah die üblichen blassen, nichtssagenden und funktionalistischen Gebäude, welche Charles Jencks einst weltweit mit der Metapher Krankenhaus belegt hatte.

Unserer Reise schicke ich einen kurzen Brief vorneweg, ihm kommt die Funktion einer Zusammenfassung, eines Überblicks, zu.


Lieber Herr …,

eine kurze, aber famose Reise liegt hinter uns. Nachdem die chinesischen Besucherwellen abgeklungen waren, flogen wir mit der Schwester und dem Schwager meiner Frau für ein paar Tage in die Schweiz. Wir wohnten im notablen Hotel Schweizerhof in Bern; die Stadt Bern ruft einen sehr prächtigen und eleganten Eindruck hervor; obwohl die Stadt nicht sehr groß ist, ist sie doch eine Weltstadt. ‒ Zwei Touren stellten die Höhepunkte dar: Die Fahrt am Thunersee entlang nach Interlaken und von dort aus im Angesicht von Eiger, Mönch und Jungfrau mit Bergbahnen bis zum Jungfraujoch und/oder Top of Europe (3454 m). Das ist durchaus eine nachhaltige Höhenposition, welche Atmung, Kreislauf und Gedankengänge verändern.

Die andere Tour führte über Fribourg nach Lausanne und Montreux zum Château de Chillon. Ab Lausanne ging es am Genfersee (Lac Léman) entlang, um schließlich Lord Byron, dem erlauchten Poesiegott neben Heinrich Heine, zu huldigen, der die Gefangenschaft des armen (reformierten) Freiheitskämpfers François Bonivard im Kerker des Schlosses Chillon (1532-36) durch den (katholischen) Herzog von Savoyen aufgegriffen und in dem Gedicht The Prisoner of Chillon, dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts entsprechend, thematisiert hatte.

Das ist jetzt zweihundert Jahre her, so dass die Veranstalter mit einer Sonderausstellung aufwarteten: 1816-2016 Byron is back! Lord Byron kehrt zurück. ‒ Kein Wunder, dachten Midori und ich, die wir zu den Bewunderern Byrons und Shelleys gehören, wenn Byron zurückkehrt, wollen wir die Gelegenheit zu einem Flirt im Schloss nutzen … Wir haben uns gut ins Zeug gelegt … Prompt flüsterte der Geist Byrons in M.s und in mein inspiriertes Ohr, dass er ‒ sowie die Geister von Percy Bysshe und Mary ‒ unnachahmliche AnhängerInnen der allgemeinen Amorkratie alias der künstlerischen Polyamory seien wie wir auch …

Mit schönen Sommergrüßen
Ihre N.N. & M.M.


Um es vorwegzunehmen, die Stadt Bern hinterließ einen guten Eindruck und ist rühmenswert. Wir hatten das am Eingang zur Altstadt gelegene Hotel Schweizerhof gebucht, welches einen so holden Namen trägt, obwohl es in die Hände der Araber gefallen ist, was bedeutete, dass das traditionsreichste Hotel der Stadt von der Murwab Gruppe aus Katar übernommen worden war. Wem diese Gruppe gehört, erfuhren wir nicht, womöglich dem Ölscheich von Katar (Qatar). Zwar habe ich Ressentiments gegenüber Ölscheichs, doch die beiden japanischen Damen verlangten Zurückhaltung und das Ablegen von Vorurteilen. Andererseits hatten die Damen bei der Wahl des Hotels nicht an Ölscheichs gedacht. Aber wer weiß? Nein, sie hatten nur die Namen von Filmschauspielerinnen und Künstlerinnen im Kopf: Grace Kelly, Sophia Loren, Ursula Andress, Liz Taylor, Mala Rubinstein …, die hier Station gemacht hatten. Das Hotel war zwar in die Jahre gekommen, aber bestens renoviert. An der gefälligen und luxuriösen Einrichtung des Hotels gab es wenig auszusetzen ... Wie es mir erging? Ich hing an der langen Leine zweier Damen. Als Poet befand ich mich im freien Fall, hielt mich aber ‒ dank des Schreibens ‒ in einem mittleren Schwebezustand. Midori und Tomomi zeigten größtes Verständnis für ›schwebende Dichter‹. In ihren Augen war ich ein ‚poète maudit‘ und ein ‚poète riche‘ gleichzeitig, das eine in ökonomischer, das andere in geistiger Hinsicht …

Das Hotel befand sich in katarischen Händen, aber die Schweizer Tradition blieb beibehalten. Wenn wohlhabende Araber nach Europa kommen, wollen sie Europa und die Schweiz kennen lernen und nicht ihre Heimat noch einmal. Die westlich moderne Inneneinrichtung des Hotels ging auf ein Londoner Architektenbüro zurück. Das Orientalische zeigte sich auf dezente Weise nur in den Menü-Karten, welche Zugeständnisse an die orientalische Küche machten, an die japanische übrigens auch. Die Restaurantküche beschäftigte einen japanischen Sushi-Meister. Weitere Zugeständnisse an die arabischen Besucher gab es im Spa-Bereich mit der Einrichtung eines kleinen Hamams sowie auf der Sky-Terrasse mit der Möglichkeit Shisha (Wasserpfeife) zu rauchen. Das war auch für Dichter nicht schlecht, wenn sie allein ‒ oder in einer Gruppe mit Freunden ‒ hoch über der Altstadt von Bern sich der Wasserpfeife hingaben, um im Haschisch-, äh im Vanilleduft, zu entspannen und den eigenen glücklichen Träumen zu folgen.

Das mit Walter Benjamins »Haschisch-Studien« war lange her. Auf der Sky-Terrasse genoss man nicht nur die Wasserpfeife, sondern kleine köstliche orientalische und Schweizer Speisen. Hinzu kam der freie Blick auf Bern. Fast alles erwies sich als fußläufig nah, in erster Linie die Altstadt, welche zum UNESCO Weltkulturerbe zählte und aus vielen barocken und klassizistischen Gebäuden bestand … Gestärkt, erfrischt, in guter Laune verließen wir das Hotel. Die Spital- und die Marktgasse hinabflanierend, gelangten wir zur berühmten Zytglogge, dem Zeitglockenturm. Dieses Bauwerk, das auf einen Wehrturm zurückgeht, ist seit dem 15. Jahrhundert ein Uhrenturm, dessen Uhr nicht bloß die Zeit, sondern auch die Stellung der Gestirne anzeigt, wobei die Sterne allerdings dem alten geozentrischen Weltbild folgen und sich um die Erde drehen. Wie gemütlich! … Kurz bevor die volle Stunde angezeigt wird, sieht man ein Figuren- und hört ein Glockenspiel: Der Hahn kräht, ein Narr tritt auf, welcher die über ihm hängenden Glocken läutet. Es folgt ein Zug bewaffneter Bären, oder sind es Tanzbären? Jedenfalls sind die Bären das Symboltier der Berner (Bärner), welche den Bärenkult pflegen. Wenn der Hahn zum zweiten Mal kräht und die Flügel schwenkt, wendet der antike Gott Chronos, der Zeitgott, eine Sanduhr. Während der Gott sein Zepter hebt, führt eine andere ›berühmte‹ Gestalt, Hans von Thann genannt, den zwar niemand kennt, der aber gewiss ein Berner ist, mit seinem Hammer die Glockenschläge aus, welche die Stunde anzeigen. Wenn schließlich ein stolzer Löwe sein Haupt wendet, kräht der Hahn zum dritten Mal. Dann hat die neue Stunde begonnen. So einfach geht das … ;‒)

Dieses antiquierte Weltbild musste Albert Einstein, der in Nähe gewohnt hatte, schlaflose Nächte bereitet und kräftig gereizt haben. Im Haus in der Kramgasse, in Reichweite zum Zeitglockenturm, entwickelte der junge Physiker im Jahr 1905 die Spezielle Relativitätstheorie, welche damals noch im Aufsatz Zur Elektrodynamik bewegter Körper steckte. Das kleine Haus, in dem der oftmals verkannte junge Meister Einstein lebte, ist jetzt ein Museum. Obschon es nur zwei Jahre waren, die Einstein hier mit seiner Ehefrau und einem Söhnchen verbrachte, erwiesen sich die beiden Jahre als besonders kreativ. Es erschienen zahlreiche Schriften des jungen Gelehrten, die das physikalische Weltbild – und alle anderen Weltbilder gleich mit – auf den Kopf stellten. Beim Besuch des Einstein-Hauses huldigten der deutsche Dichter und seine japanische Verwandtschaft dem großen Genie, das damals in bedürftigen Verhältnissen lebte. Herr Einstein besaß das Haus nicht, das heute seinen Namen trägt. Er wohnte in einer einfachen Mietwohnung auf der zweiten Etage. Für alle Hausbewohner zusammen, es waren wohl drei oder vier Familien, gab es nur eine gemeinsame Küche und ein gemeinsames Bad. Das lässt auch eine ›gesellschaftliche Relativitätstheorie‹ vermuten, obschon die nicht oft ins Spiel gebracht wird.

In Bern folgt Gasse auf Gasse, auf die Kramgasse folgte die Gerechtigkeitsgasse, die wir bis zur Nydeggbrücke hinabschritten. Die aneinandergereihten Gassen, die eine einzige durchgehende Straße bildeten, wiesen rechts und links Laubengänge auf, überdachte Promenaden mit vielen Geschäften und Boutiquen, welche Besucher und Käufer anlockten. Diese Gassen, allesamt Fußgängerstraßen, waren in gewissen Abständen mit Figurenbrunnen versehen. Die Brunnen stammten aus dem 16. Jahrhundert und wiesen geschichtliche und mythische Motive auf. Wir sahen den Pfeifer- und den Schützenbrunnen, den Kindlifresserbrunnen, den Zähringer-, Simson- und den Gerechtigkeitsbrunnen … Die Skulpturen dazu, symbolische Figuren, waren auf Säulen in der Höhe angebracht, welche die Brunnen deutlich überragten. Am auffälligsten war der ›Kindlifresser‹. Er war eine Schreckfigur aus dem Mittelalter. Überforderte Eltern drohten mit ihm, wenn die Kinder sich nicht so verhielten, wie sie sollten.

Von der Nydeggbrücke aus schauten wir ins Aaretal herab, auf den schnell dahinströmenden Fluss, dessen saubere grüne Fluten den Blick anzogen, wie auch auf die am Fluss idyllisch gelegenen Häuser und kleinen Siedlungen. Auf der anderen Flussseite sahen wir von oben aus ins Bärengehege, in welchem sich eine Bärenmutter und ihr Junges trollten. Sie trugen das Ihre zum Ansehen der Stadt bei. Inspirierender als die Bären war eine Gruppe mit zehn oder zwölf chinesischen Lolitas, die allesamt fesch am Brückengeländer posierten und den überraschten Damen Midori und Tomomi die Schau stahlen. Chinese Whispers, how wonderful! Chinesisches Geflüster ..., das war der Name einer Ausstellung mit aktueller chinesischer Kunst, die im Zentrum Paul Klee zu sehen war. Was die Lolitas veranstalteten, war jedoch ein chinesisches Geflüster besonderer Art, so cool und zugleich voll übersprudelnder Energie. Drollige Bären, romantische Damen, der Blick von der Brücke erhaben, was wollte man mehr?

Wir flanierten durch die Postgasse in Richtung des historischen Rathauses aus dem frühen 15. Jahrhundert im spätgotischen Stil. Historisch? Dem Kanton Bern sowie der Stadt dient es noch heute als Regierungs- und Verwaltungssitz. Zur Linken an der Südfassade wurden die Tugenden, rechts die Laster dargestellt. Interessant, dass der Philosoph Diogenes zu den »Tugendsamen« zählte … Tugenden und Laster prägten das Mittelalter, heutzutage gehen wir von der Relativität der Werte aus. Wir fühlen uns auf dem schwankenden Boden von Nietzsches moralischer Relativitätstheorie wohl … Schwanken und schaukeln, am liebsten mit Chinesinnen und mit Japanerinnen, das lässt angenehme Perspektiven zu! Gern auch mit einer derben Schweizerin, die mein freches Mütchen kühlt ... Auf Abwegen? Nein, ich flanierte mit meinen Japanern bei hochsommerlichen Temperaturen um die dreißig Grad zum Kornhausplatz, um im Straßenbetrieb des Kornhauscafés unter weit ausladenden Sonnenschirmen bei starkem Kaffee sowie bei Aprikosen- und Pflaumenkuchen festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Das ging solange gut, bis die Gruppe mit den chinesischen Lolitas erneut auftauchte, die den allzu sensiblen Gastpoeten ›inwendig‹ vom Hocker riss ...

Nachdem wir uns in der Altstadt umgesehen hatten, legten wir im Hotel eine Ruhepause ein. Abends nahmen wir ein leichtes Mahl in der Lobby-Lounge ein, weil jeder von uns auf seine schlanke Linie achtete, obschon Japanerinnen das am wenigsten nötig haben. Asiatinnen sind von Natur aus schlank und nehmen ungern zu. Midori, die schöne Eigenwillige, am wenigsten. Nach dem Essen wollten wir einen Spaziergang machen und die nächtliche Stadt kennen lernen, aber Madame lehnte ab. Sie zog es vor, den Abend im Spa-Bereich zu verbringen. Womöglich war sie auf Ölprinzen neugierig … Während die raffinierte, eigenwillige Belle in Whirl-Pools eintauchte, spazierten Tomomi, Hiroshi und ich bei Sonnenuntergang in einem großen Bogen am Flussufer der Aare entlang, um die Verbindung von Natur und Stadt zu genießen. Wir lenkten unsere Schritte über die Untertorbrücke, eine steinerne Bogenbrücke aus dem 15. Jahrhundert, in die Altstadt zurück, um in das belebte Festival mit Straßenmusikern und mit Kleinkunst einzutauchen.

Wulf [Noll]


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