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Beim Friseur

Frauen, so stand irgendwo zu lesen, fürchteten sich mehr vor dem Gang zum Friseur als vor einem Arztbesuch ... ein Satz, der Fragen aufwirft, ebenso wie der, dass nicht ein altmodisches Kleid, wohl aber eine solche Frisur die Frau unansehnlich mache. Wahr oder falsch? Der Friseur als kommunikativer und zugleich praktizierender Ort, der als privater und doch auch öffentlich relevanter Resonanzkörper der Gesellschaft so viel Raum für Tradition und Innovationen bietet, ist zugleich ein Pfuhl wiederkehrender Vorurteile. Z.B. auch dem, wonach Friseusen lange Zeit als scharfe Bräute galten. Bohrt man nach, werden Widersprüche schnell offenbar, so etwa bei jenem vorgestrigen Alten, der über seine – der Meinen vergleichbare – Jugend in den 1950ern berichtet: Klar waren Friseusen geile Schätzchen, aber bei uns war der Friseur, Sepp Meidl, leider ein Mann, und der ist immer ins Haus gekommen, wobei Haus eigentlich die Küche war, abgetretenes Linoleum, dazu ein vom Tisch abgerückter Hocker. Das Handwerkszeug dieses Friseurs steckte in einer prallen Aktentasche: Umhang, zwei Scheren, Haarpinsel, das Rasiermesser mit dazu gehörigem Schleifleder. Und dann gab es da noch so eine mechanische Haarschneidemaschine, deren Messer sich durch schnelles Schließen und Öffnen der Hand des Friseurs gegenläufig hin und her bewegten und so ihr Schneidewerk vollbrachten. Tagsüber lagerte Meidls Tasche in einem Spind bei der Gebr. Boehringer GmbH, einer der großen Maschinenfabriken am Ort, wo es damals noch viel Platz für Hilfsarbeiter und ihre neuen Fahrräder gab. Bei seinem abendlichen Berufswechsel diente dem Friseur in der Küche nicht sein Schleifleder sondern unser Spülstein zum Schärfen der Klinge für die finale Nackenrasur. Kitzelnde Härchen blieben nie lange lästig. Kaum hatte ich mich umständlich unter dem Umhang gerührt – Armschlitze gab es ja noch nicht – holte Friseur Meidl tief schlürfend Luft, blies großflächig über mein Gesicht, wobei allerdings manches, etwa im Ohr verirrte Härchen, noch tiefer in den Gehörgang geraten konnte. Mit Friseusen war so also nichts drin, auch bei einem anderen unserer früheren Hausfriseure nicht, der es bald schaffte, seinen eigenen Laden, mit dem verführerischen Namen: Salon Peltier zu eröffnen.

Natürlich gab es zunehmend mehr Friseusen, aber die trafen in den fortschreitenden 60ern auf immer weniger junge Männer, die noch zum Friseur gegangen wären. Dieser ganze Berufsstand mit seinem unvermeidlichen Fassonschnitt wurde von der aufmüpfigen Jugend zwar nicht bekämpft, wohl aber gemieden, sozusagen geschnitten. Die Haare der Jungs waren nur noch zum Wachsen da. Auch der wohlgesonnene Fahrlehrer, der meinte, für die Führerscheinprüfung könnte ein Haarschnitt hilfreich sein und seine Empfehlung mit der Ankündigung, "ein scharfer Hund, ein Prüfer vom alten Schlag" werde diesmal hinten sitzen, konnte keine Einschnitte in die Haarpracht über der Parka bewirken. Jahre später, als sich die Verhältnisse entspannten und ab und zu doch wieder zum Friseur gegangen wurde, war von einer besonderen Offenherzigkeit der Friseusen eigentlich keine Rede mehr … wahrscheinlich, weil im Zuge der 68er sowieso alle irgendwie zugänglicher geworden waren. "Schwachsinn – könnte es vom Chor der kritischen Friseurinnen tönen – wir waren niemals überdurchschnittlich nahbar. Den Ruf als Flittchen hatten uns die eigenen Kollegen angedichtet, um uns von ihrem Barbierhokuspokus fernzuhalten. Das Problem waren die Männer, von denen ja wirklich nur noch Dumme oder Schwule in das Friseurhandwerk kamen ...". Nun ja, Otwin B. jedenfalls, einer der da möglicherweise gemeinten Friseurlehrlinge, war beides nicht. Und dass er später aus der Art geschlagen war und als Zuhälter und zugleich Polizeispitzel unnatürlich früh verstarb, kann man seinen Kollegen sicher nicht zum Vorwurf machen. Wie auch immer; geredet wird natürlich viel beim Friseur. So, z.B. in Zürich-Kloten, wo sie stolz von einem Fluggast erzählen, der auf einem kurzen Zwischenstopp eilig den Flughafenfriseur aufsuchte, weil er mit seinem, ihm im Frankfurt Airport völlig vermurksten Schnitt niemandem, geschweige denn sich selbst, ins Angesicht blicken wollte.

Eine andere Friseurgeschichte begann mit einer Steuerprüfung in einem Salon im Hessischen Hinterland: "Bei ihrer Steuermoral, Herr Sowieso, bleibt ihnen bald nur noch die Flucht nach Paraguay." Was als Weckruf, bzw. Drohung eines besorgten Finanzbeamten gedacht war, wuchs sich aus zum Tagtraum des Figaro: Einmal, als ihn ein Marburger Altlinker selbst aus dem Haarwaschbecken noch politisch agitierte, flogen die Gedanken des Friseurs einfach hinaus aus seinem Salon, hinüber nach Paraguay, hinein in das ungestüm schäumende Getöse der Wasserfälle von Iguazú, denen er mit verschwommenem Blick folgte. Ein anderes Mal, während er pflichtbewusst in das Spiegelbild einer treuen Kundin lächelte und nutzlos ihre flachen Wirbel wickelte, flammten ihm im Geiste die wilden Löckchen einer Brünetten entgegen, die sich schmeichelnd an seine sensiblen Fingerkuppen schmiegten. Und selbst das Schleifen des Rasiermessers betrieb er fortan in seliger Stimmung, mit einem um die Mundwinkel listigen Lächeln, bei dem er von jählings angeritzten Ohrläppchen träumte, die seinen Fluchtweg hinweg vom deutschen Abgabenmoloch markieren würden. Sein Ziel, einfach und klar formuliert: "Fluchtgeld wächst parallel zu den Schulden", stand ihm überall vor Augen, flimmerte aus jedem Spiegel, leuchtete ihm aus Schubladen entgegen, wirbelte stürmisch um den Fön, zog sich wie ein Laufband über die Blätter der Scheren, sowie quer über die Zinken der Kämme. "In Paraguay – so erzählte er später allenthalben - machst du schnell ein kleines Vermögen. Insbesondere dann, wenn es zuvor groß gewesen ist ...". Seinen Humor, immerhin, hatte er sich dort also bewahrt und auch seinen nützlichen Beruf; jetzt als Hausfriseur bei deutschen Einwanderern ... nun ja, immer noch besser als das Schicksal von Wolfgang Sch., einem seiner neuen Kumpel im Lande, von dem es später hieß, er habe den Kopf verloren – durch den gezielten Schlag einer Machete – weil er glaubte, beim Rauschgifthandel mitmischen zu können. Beileid.

In ein zum Glück harmloseres Gefecht war ein kleiner Knirps verwickelt – in Göppingen, im Salon Landgraf, am Rosenplatz. Statt wieder mal auf Herrn Meidl zu warten, hatte man ihn diesmal mit einer Mark in der Tasche zu einem "richtigen" Friseur geschickt, veranlasst von seiner erfahrenen Omama, die meinte, die Hausfriseure handelten gegen seine Natur, zögen seinen Scheitel blindlings links anstatt rechts. Jedoch: All sein Bemühen, sein von den Spiegeln dokumentiertes Deuten, mit dem er versuchte, die heimische Sorge zu transportieren, den Scheitel verlegen zu lassen, blieb vergebens. Selbst der Chef kam herbei, mischte sich ein, um das Ansinnen des Kindes zu zerstreuen; er sprach von so etwas wie dem verkehrten Schein einer gespiegelten Welt, in der sich die Lage exakt, aber eben seitenverkehrt zeige, was durch eine neuerlich Umkehr geheilt werden müsse. Durch einen, wie der Chef richtig erkannte, notwendig ergänzenden, mehr praktischen Teil seines Vortrags, brachte der vielseitige Meister seinen professionellen Zeigefinger ins Spiel, fuhr damit zunächst über seinen eigenen Scheitel, um sodann gegenüber sein Spiegelbild zu berühren, wodurch der lehrreiche Finger schon nach kurzem Verharren insofern nachhaltig wirkte, als ein haarcremegesättigter, auf dem Spiegelglas zurück gelassener Fingerabdruck den Jungen fortan daran gemahnte, seine Zweifel langsam über Bord zu werfen. Und so ist es dann auch gekommen: Zögerlich zwar hat das Bürschchen begonnen, sich damit abzufinden, dass seine gute Omi das mit den Spiegeln wohl einfach nicht wisse. Die Botschaft des emsigen Friseurs mit der Situation zu Hause vergleichend, wo einen an den Haarschneideabenden tatsächlich nur ein matter Spülstein und kein täuschungsbegabter Spiegel verwirren konnte, begann er erleichtert zu nicken und das Unvermeidliche– Fassonschnitt, Scheitel links – mit sich geschehen zu lassen. Zum Abschied, zur Ablenkung und wohl auch versöhnlich gemeint, kreierte Herr Landgraf für ihn, den wieder adrett gescheitelten kleinen Kunden eine, genauso, angeregt von einer der Packungen 8x4 Deodorant … war es gewesen, eine Multiplikationsaufgabe. Wieviel acht mal vier sei, lautete die Frage; 24 meldete der Knabe mit Frageblick nach oben. Kopfschüttelnd und sogleich in seine neuerliche Mission ergeben, schritt L. nun unverzüglich, jetzt ohne Spiegelfechtereien, zum praktischen Teil, setzte Finger zu Finger, sammelte achtmal die Vier, oder in einer etwas anderen Variante, nur viermal die Vier und dann noch einmal so viele. Alles das für knapp eine Mark.

Natürlich ist inzwischen vieles anders geworden. Was gemeinhin immer noch gilt, ist, dass der Friseur eine besondere Schule des Wartens sei, wobei es aber auch hier Menschen gibt, vielleicht sogar Kulturen, die weniger das Warten als das Drankommen stört. Für die ist Warten Erlebnis, Ereignis, wie für andere Konzertbesuch oder Stammtisch. Warten ist denen geschenkte Gelegenheit, um mit Freunden oder Kollegen, aber ebenso gerne mit Unbekannten zu kommunizieren oder nur still da zu sitzen, bzw. irgendwo in einer Schlange zu stehen, Menschen zu spüren, zu betrachten, aus fliegenden Gedanken Wünsche zu formen, an eigenen Idealbildern zu feilen und diese lauthals oder im Geiste an denen der andern zu messen. All das ist Kultur, nicht Warten. Und selbst schlimme Varianten des Wartens können plötzlich in Glanz erstrahlen, obwohl es zunächst wirklich nur öde und blöde zu sein scheint, wenn man, zurück zum Friseur, diesen schon neben sich hat, man erwartungsvoll dasitzt vor einem der Spiegel, aber anstatt bedient zu werden zuschauen muss, wie dieser Kerl in seinem bläulichen Kittel die Zeitung studiert. Genau das hat ein Friseur in Asunción, Paraguay getrieben, und zwar mit der quasi unberührten FAZ, die sich – wie auch sonst sollte sie dorthin gekommen sein – der Kunde selbst mitgebracht hatte und nun fassungslos das Geraschel zwischen seiner Zeitung und diesem Barbier verfolgen musste. Seite für Seite, von primera plana bis zum Schluss, bedächtig, vor und wieder zurück, glitten die Blätter an dem Kunden vorbei, bis es nach einer halben Ewigkeit hieß: "Un diario muy importante", was für ein wichtiges Blatt, so sprach mit großem Ernst der Friseur und blickte in eine imaginierte Ferne, fasziniert von diesem papiernen Sammelsurium, von dem er kein Wort verstand. Ihn beeindruckte, was mittlerweile ja auch nicht mehr der Fall ist, dass diese Zeitung ohne jegliches Bild auskam und hinten bis vorn lediglich aus Text bestand. Text, Text, und noch einmal Text.

Der folgende Haarschnitt, begleitet von ungeahntem gegenseitigen Respekt, glich, wie dann auch das Trinkgeld zeigte, einem Hochamt. Warten ist also nicht gleich Warten und sollte bitte – worauf hier sicherlich im Namen aller Friseure aufmerksam gemacht werden darf – keinesfalls mit dem erpresserischen Warten auf jenen Haircut verwechselt werden, mit dem sich faule Schuldner ebenso wie gewissenlos Schulden auftürmende Staaten ihrer Verpflichtungen zu entledigen trachten.

Rainer [Willert]


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