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Die Weltgeschichte und andere Lebensgeschichten

Sie räkelte sich in ihrem Bett, an dem Tag, an dem draußen in ihrer Straße die ersten Herbstblätter zu Boden fielen. Sie hatte davon geträumt, dass ihr Haar ganz lang gewesen war, so lang, dass sie es endlich in vier Stufen hatte schneiden können. Zwischendrin ein paar Dreads, die sie begonnen hatte, rauszukämmen, nur um sich dann doch dagegen zu entscheiden. Sie war in einem Zug gefahren, eigentlich mehr einer Straßenbahn, ganz lang war sie gefahren, mit einer männlichen Begleitung, einem Freund oder so etwas, bis zum Mittagessen des Hotels. Zuvor waren sie durch seltsame, fast geheim, zumindest geheimnisvoll, wirkende Türen gegangen, manche größer, andere kleiner. Und als sie eine Stunde unterwegs waren, vermuteten sie dann doch, dass sie das alles falsch verstanden hatten, dass das Mittagessen -oder war es nicht doch das Frühstück gewesen?- doch irgendwo anders sein müsste. Oder was war das für ein seltsames Hotel, das seine Gäste von einem Tag auf den nächsten auf einmal so in der Weltgeschichte herumschickte?

Doch die Weltgeschichte war das Spannende und sie verwob sich immer wieder auf mysteriöse Weise mit ihrer oder anderen Lebensgeschichten. Und in manchen Momenten schmeckte das Leben als sei alles auf dem Verstand gänzlich unzugängliche Weise miteinander verwoben. Und so fühlte sie sich irgendwie auch nach diesem Traum wieder. Mit allem seltsam gänzlich verwoben, versponnen und verknüpft. Mit allem, das jemals gewesen war, war und sein würde und ebenfalls mit allem, das niemals gewesen war, war und sein würde, und lediglich in den Träumen oder Fantasien irgendwelcher Menschen, Tiere, Bäume und Steine vor sich hinschwebte und sich ebenfalls mit allem anderen verwob und verknüpfte.

In Wahrheit war ihr Haar nicht so lang. Sie bedauerte das nach solchen Träumen immer ein wenig; hatte jedes Mal ein wenig den Eindruck, ihr entging dadurch ein gewisses Erleben, eine gewisse Erfahrung, ein gewisses Lebensgefühl, vielleicht ein Stück Weiblichkeit, das sie noch nie zu leben gewagt hatte, deren Zugang ihr bisher immer irgendwie verwehrt geblieben war. Dennoch fühlte sie sich sehr weiblich wie sie sich so im Bett räkelte. Aber sie fragte sich nicht, wieso Räkeln und Weiblichkeit denn unbedingt zusammen gehören müssen. Vielleicht war es in diesem Moment auch gar nicht so wichtig, solche Fragen zu stellen.

Es gehe im Leben und in der Liebe immer um Entscheidungen, hatte mal jemand gesagt. Aber sie war der Meinung, es ging immer mehr um ein Gefühl als um etwas so Banales und Willkürliches wie Entscheidungen. Zumindest wusste sie nicht, konnte sie sich nicht vorstellen, wie man sein Leben sonst führen sollte und konnte, ohne dem Gefühl nach, das einen immer wieder an wunderbare und seltsame innere und äußere Orte führte, niemals aber eine Routine oder Langeweile zuließ. Und obwohl sie von dem Leben nach Gefühl überzeugt war, fragte sie sich, inwiefern es überhaupt möglich war zu leben, mit anderen zusammen zu leben, ohne deren Einschränkungen ausgeliefert zu sein. Es fühlte sich gut an und frei, hier alleine im Bett im dritten Stock zu liegen, das Zimmer dunkel genug, dass keiner, auch niemand aus den Nachbarhäusern zu ihr hineinsehen konnte. Es tat gut, dass sie zwar, wenn sie wollte, sich ein wenig erheben und den jungen Mann auf dem Balkon im zweiten Stock gegenüber beim Rauchen mit seinem Kumpel sehen konnte, er aber nicht einmal ihre Umrisse erahnen konnte. Dieses Gefühl der Einsamkeit und der Pflichtlosigkeit tat gut nach einer Zeit mit Beziehungen, One-Night-Stands und Affären. Es tat gut, einfach mal nur da zu sein, niemanden zu vermissen, niemanden zu begehren und keinem Rede und Antwort stehen zu müssen. Nicht eifersüchtig zu sein und sich nicht mit der Eifersucht eines anderen befassen zu müssen. Einfach nur da zu sein, zu sein, ganz allein. Sie wusste, am Ende sperrte man sich immer nur selbst ein, zumindest hatte das mal ein weiser Mensch gesagt oder war es die einhellige Meinung weiser Menschen. Aber sie war sich inzwischen nicht mehr ganz so sicher, ob nicht das Bedürfnis mit anderen Menschen das Leben zu teilen, uns bereits einengte und einschränkte. Und sie war sich inzwischen nicht mehr so sicher, ob sie zu den Menschen gehörte, denen diese Einschränkung die Liebe und Innigkeit, die man im Gegenzug bekam, wert war oder ob sie nicht lieber einsam leben wollte und dafür frei von den Bestimmungen anderer Menschen. Es waren meist die Eigenbrötler und Eigenbrötlerinnen gewesen, die sie beeindruckt hatten, Männer und Frauen, die das Beziehungsleben lange hinter sich gelassen hatten, oder die zu den rar gesäten Exemplaren gehörten, die trotz einer partnerschaftlichen Beziehung ein eigenständiges Individuum blieben. Sie gehörte zu diesen Exemplaren nicht und sie fragte sich, ob es nicht, statt ein Leben lang darauf hinzuarbeiten, einfacher wäre, das mit den Beziehungen und vielleicht auch gleich mit dem Sex, ganz bleiben zu lassen. Unerfüllte Begierde hatte schließlich auch so seinen Reiz, und sie konnte sehr erfüllend und inspirierend sein, wenn man sie nur schlau zu nutzen wusste. Nicht blöd waren hierfür Gespräche mit intelligenten Nonnen, aber man konnte auch selbst darauf kommen. Derzeit hatte sie einen Job in einem Café, in dem sie jeden Tag allerlei junge attraktive Männer sah. Das machte sie beiweitem nicht mehr so aufgewühlt und nervös wie es noch vor ein paar Jahren gewesen wäre. Meist konnte sie sich ganz gut beherrschen. Genau genommen interessierte es sie nicht groß; außer vielleicht optisch, so wie man sich gerne ein schönes Bild ansieht oder gerne in einer geschmackvoll eingerichteten Wohnung lebt oder sich aufhält. Aber sie merkte auch, dass sie manchmal wieder die pubertäre Schüchternheit von früher überkam; viel weniger, weil ihr einer dieser Männer wirklich gefiel oder ihr Interesse weckte, sondern vielmehr, weil sie das kurze Gefühl, den flüchtigen Eindruck hatte, es sei umgekehrt der Fall. Dann geriet sie in einen seltsamen Strudel gefallen zu wollen, erobern zu wollen, merkte, wie sie längeren Augenkontakt suchte, verschämt lachte, fast kokettierte. Und fand sich im Nachhinein selbst albern dabei und fragte sich, was sie sich davon erhoffte und warum es ihr so wichtig war, diesem Mann das Gefühl zu geben, dass sie ihn begehrte, obwohl er für sie nur ein Mensch von vielen war, die jeden Tag ihren Tag kreuzten.

Manchmal, wenn sie alleine im Bett lag, hatte sie Lust, diese, solche und ähnliche Gedanken mit einem Partner zu diskutieren. Darüber zu spekulieren, wo dieses seltsame Verhalten wohl herrühren mochte, wo die seltsamen Gefühle dazu wohl herrühren mochten. Doch meist waren partnerschaftliche Beziehungen zu unreif für solche Gespräche, oder lohnte sich ihr Wert nicht im Vergleich zu den Disputen und dem Gefühlswirrwarr, die ihnen nachfolgten. Meist waren weder sie noch ihre Partner reif genug gewesen, um solche Gespräche wirklich regelmäßig auf Augenhöhe führen zu können, vermutlich waren nur sehr wenige Exemplare der momentanen Menschheit reif genug für diese Art der Partnerschaftlichkeit.

Dennoch konnte man für etwas anderes reif genug sein, hatte sie immer wieder bei sich gedacht. Es musste ja nicht unbedingt mit einem oder mehreren anderen Menschen zusammen sein. Man konnte sich schließlich auch mit dem Leben auseinandersetzen ohne sich auch permanent mit anderen Menschen auseinandersetzen zu müssen. Ob und wie sinnvoll die Auseinandersetzung mit dem Leben dann war, war eine andere Frage. Wie viel Angst und Resignation hinter solchen Gedanken oder einer solchen Entscheidung vielleicht stecken mochte, war eine andere Frage. Eine gute Frage. Aber man konnte es auch als Weisheit sehen. Man konnte es, wie so vieles, aus verschiedenen Perspektiven betrachten.

Vielleicht hing es auch einfach an einem selbst, wie stark und wie charakterstark man war. Ob man einen anderen Menschen an seiner Seite aushalten konnte oder nicht. Ob man sein eigenes Leben weiterleben konnte ohne dauernd von diesem und jenem verletzt zu sein oder dieses und jenes zu befürchten. Ob man sich selbst und den anderen freilassen konnte, frei sein lassen konnte. Ob man Bereicherung zulassen konnte ohne dem Leben Grenzen setzen zu müssen. Und vielleicht ging es auch umgekehrt um die Frage, ob man auf die Bereicherung der Zweisamkeit verzichten konnte. Denn selbst, wenn man sich gegen eine Beziehung entschied, hieß das lange noch nicht, dass es einem auch gelang, tatsächlich auf die Zweisamkeit zu verzichten und sei es nur die Imaginierte, die, die in den eigenen Sehnsüchten lebte.

Sie wusste, sie begann innerlich zu fliehen, wenn man sie zu sehr bedrängte, aber auch, wenn man ihr auf schöne Art zu nahe kam. Es war ein schmaler Grat, auf dem ein Mann, der ihr nahe sein wollte, sich zu bewegen wissen musste. Und es war umgekehrt der selbe vertraute schmale Grat, auf dem sie balancieren und tanzen musste, um eine Liebe aushalten zu können. Sie hatte nur eine Liebe aushalten können, deshalb wusste sie das so genau. Dennoch fragte sie sich, so fern von allen Lieben, ob nicht eine andere Liebe, ein anderer Mann vielleicht besser für sie gewesen wäre, wenn sie sie hätte aushalten können. Ob das Aushalten können das Wesentliche war oder andere Faktoren, und welche dieser Lieben ihr Leben am meisten verändert und bereichert hätte oder ob nicht die Liebe am Besten für einen war, die am wenigsten veränderte und am meisten dem Vertrauten entsprach. Es gab viele Menschen, die verschiedene Lieben verschieden bereichernd fanden. Es gab viele spannende und lustige und tragische Romane und Filme dazu. Aber das alles war ihr immer zu viel gewesen. Sie konnte komplizierte Liebe nicht aushalten, sie konnte sie nicht genießen, sie konnte sie nicht verkraften. Das mochte etwas für andere Menschen sein, andere Menschen mochten ihre Bereicherung daraus ziehen, aber ihr war das einfach alles zu viel. Sie wollte lieben und geliebt werden, verstehen und verstanden werden, alles andere war ihr zu schmerzhaft. Es reichte, dass das Leben oft so kompliziert und auch nicht selten tragisch war. Da brauchte sie das nicht noch in einer Partnerschaft. Vielleicht waren solche Partnerschaften etwas für Menschen, die alleine schon stark genug waren, auch wenn doch irgendwie jeder Halt in anderen suchte. Vielleicht war es auch einfach für jeden anders. Ob nun Schnee fiel oder Blumen blühten, dachte sie sich, war nicht so wichtig, solange man sich daran erinnerte, wie die Herbstblätter fielen.

Katharina [Bosch]


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