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Engstelle | Rezension

Im Blutkreislauf löst die Engstelle einen mehr oder weniger raschen Eingriff aus, um den bedrohlichen Blutstau abzuwehren, in Verkehrssystemen sind die Engstellen die wahren Maßstäbe für Kapazität. Im Denken freilich gilt die Engstelle als etwas Edles, das es anzusteuern gilt. An den Engstellen nämlich steigen Gedanken am liebsten ab und beginnen sofort zu diskutieren.

Martin Maier stellt unter dem lapidaren Titel "Engstelle" ein Buch vor, das im Ganzen als Engstelle einer Epoche gelesen werden kann. Macht man sich an die Einzelteile heran, so wird man etwa fünfzigmal zu höchster Konzentration gezwungen, die einzelnen Engstellen stechen als verdichtete Gedankenkapsel hervor, die bei Lektüre jeweils eine gesamte Geschichte auslösen.

Die sogenannten Denkkapseln erzählen mit zwei, drei Sätzen einen Sachverhalt, der zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte öffentlich aufgeblitzt ist und beim sogenannten Reflektor einen Gedankenblitz ausgelöst hat.

"Seit seiner ersten Modelleisenbahn war die einzige Konstante der Wind gewesen. Wie gewonnen, so zerronnen. Daran hatte sich nichts geändert." (13) Der Fluss der Zeit, die Komponenten Spiel und Wetter sind an und für sich für jede Epoche verwendbar. Durch die umliegenden Textzellen freilich wird die Spielfläche konkretisiert, indem der Held erzählt, dass ihm Fünf-Euro-Scheine als Papierflieger davongeblasen werden, sobald er die Geldtasche öffnet. Aber auch die alten Scheine haben sich öfters in Papierflieger verwandelt. – Allmählich wird die Geschichte kompakt. Der Held hat offensichtlich mehrere Währungen erlebt und das Geld an jenen Wind verloren, der ihn einst beim Spiel mit der Modelleisenbahn begleitet hat.

Als hohe Verdichtungskunst gelten in der der Literatur die Beispiele des "Er-Kosmos" von Franz Kafka und die "Keuner-Geschichten" von Bert Brecht. In beiden Fällen wird ein trivialer Sachverhalt jeweils zu einem Lehrbeispiel für die aktuelle Gegenwart ausgeschmückt, die sogenannte Moral dieser Geschichten gilt jeweils nur für jenen Augenblick, in dem sie erzählt wird.

Ähnliches tut sich bei der "Engstelle", wo ja auch Szenen für einen Augenblick zeitlose Gültigkeit entwickeln, aber schon beim Umblättern zum nächsten Sachverhalt eingeschränkt und ausgeweitet, kurz: relativiert werden.

Dieser Er-Standpunkt erweist sich als eigedampfte Erzählsituation, von der jede Person zu jeder Zeit betroffen sein kann. Was als höchste Intimität angelegt ist, wird gleichzeitig zur höchsten Form der Generalisierung. In diesem Wechselspiel agieren die einzelnen Gedanken wie Magnetfelder in einem Satzbogen und stoßen sich ab und ziehen sich an.

Oft sind die "Geschichten" groteske Auswüchse einer logischen Kette, die an ihrer schrägsten Stelle gerissen ist.

Ein Mülldieb geht um, ist unkonzentriert, sodass er eines Tages die Tonne klaut, statt des Mülls. – An der Tankstelle räsonieren Tankwart und Kundin darüber, wieso ihre Wohnungen jetzt fremdgeheizt würden. – Ein Lehrer vergleicht die Pädagogik mit einem Hackstock, an dem Scheite gespalten werden. Manchmal ist auch eine sogenannte Kopfnuss dabei.

Die Lage entgleist zwischendurch, wenn ein Wort zu wörtlich genommen wird. Ein Amokschütze passt mit dem Lauf der Waffe nicht auf und schon nimmt alles seinen Lauf. (67) Ohne jeglichen Grund wird dem Helden ein Schreiben zugestellt mit der Meldung, dass es keine Besoldungsrechtlichen Konsequenzen gibt. Gemeint ist vermutlich, dass es überhaupt kein Geld gibt. (87)

Regelmäßig poppt die Frage auf, ob an der einen oder anderen Engstelle nicht gerade etwas unverwechselbar Einmaliges verhandelt würde. Abermals zeigt das Umblättern im Gedankenstrom, dass auch die Engstellen austauschbar sind, so sehr sie sich auch als Solitäre geben.

Beruhigung schafft die Gelassenheit über die Austauschbarkeit jeglicher Zeit. "Wenn heute das Früher von morgen ist, war früher wohl alles schlechter. Er lehnte sich zurück und ließ den Dingen ihren Lauf." (89)

Das Geheimnis liegt vielleicht in der Universalität der Einmaligkeit. Während der Lektüre verklumpen Held, Text und Leser zu einer Engstelle, aber schon im nächsten Leseschritt ist wieder alles offen und weit, man muss die nächste Engstelle suchen, um wieder zur Ruhe zu kommen.

Natürlich ist ein sorgfältiges Maß an Ernst und Gedankendisziplin vonnöten, um den Tiefgang der Texte halbwegs auszuloten, aber manchmal ist einfach Humor angesagt, wenn etwa jemand empfiehlt, den Stoffwechsel abzuschaffen, dann wären alle Probleme erledigt. Das denkt sich insbesondere der Prinz auf der Erbse, der sich als Eisenbieger gerade an einem Stück Stange abarbeitet.

Helmuth [Schönauer] | Zum [Buch]



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