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Die klare Linie

"Eine vorübergehende Störung des Gleichgewichtssinns ist kein Grund zu ernsthafter Besorgnis", so etwas könnte sein Hausarzt gesagt haben, überlegte Hannes, während er schwankend die Zypressenstrasse hinunter Richtung Bullingerplatz lief, das könnte sein Hausarzt wirklich gesagt haben, wenn Hannes ihn aufgesucht hätte, und er hätte dann – wie immer – noch hinzugefügt, "Isch guät?". Womit bewiesen wäre, überlegte Hannes weiter, dass man sich Arztbesuche ebenso gut sparen konnte, den guten Rat konnte man sich schließlich selbst geben.

Doch ein Wort aus seinem vorigen Gedankengang hatte sich in seinem Kurzzeitgedächtnis festgehakt und sprang ihn nun von dort aus wieder an: "hinzugefügt", es gehörte aus Prinzip dazu, dass etwas hinzugefügt wurde, im Falle des Hausarztes war es in der Regel ein Medikamentenmuster, das der Krankenversicherung gegenüber teuer abgerechnet wurde, und in seinem eigenen Fall war es der Tequila, der den fruchtigen Margharitas hinzugefügt worden war, die er im Laufe des Abends in rascher Folge seinem Mageninhalt hinzugefügt hatte. Ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken an dieses potenzierte Hinzufügen, so dass er einen Moment lang mit der Idee spielte, etwas davon wieder rückgängig zu machen, sein Magen schien dies eindeutig zu unterstützen. Aber Hannes entschied sich dagegen, er war ein Mann der klaren Linie, da gab es kein Vor und Zurück, kein sinnloses Bedauern des einmal eingeschlagenen Weges.

Das Wort "Weg" zuckte durch seinen Kopf und wollte nicht so schnell verblassen wie seine Nachbarworte, Weg, was war mit dem Weg, der Weg war weg, eben hatte Hannes ihn noch klar erkennen können, den Bürgersteig neben der Straße, jetzt schien er sich in eine Gesteinswüste zerstreut zu haben, eine Pflasterebene mit einer Grenze, die es zu überschreiten galt, schon immer war Hannes ein großer Grenzenüberwinder gewesen. Er setzte entsprechend zu einem großen Schritt an, wobei er das Knie bis zur Bauchnabelhöhe anhob, um ohne Zusammenstoß über das Hindernis steigen zu können. Hierbei nahm die vorübergehende Störung seines Gleichgewichtssinns die Auswirkungen einer Windbö Stärke 7 an und brachte ihn in eine Schräglage, die sich als so instabil erwies, dass er sie um des lieben Friedens willen in eine horizontale verwandelte.

Unangenehm berührt stellte er fest, dass das kalte Wasser des Bullingerbrunnens seine Kleidung durchdrang, seinen Kreislauf anstieß und ein befremdliches Gefühl der Verwirrung in ihm aufkommen ließ. Es ging nie lange gut, musste er sich betrübt eingestehen, seine Phasen des glasklaren Denkens waren immer nur vorübergehend.

Susanne [Mathies]


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