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Sammel-Sammel-Surium


Als Kind fand ich Maikäfer besonders schön. So gemütlich dick waren sie und brummten so lustig. Meine Spielgefährtin und ich fingen sie und sperrten sie in Schachteln oder Schuhkartons, in die wir noch ein paar Blätter legten, die wir von den Hecken gepflückt hatten. Wenn wir von unseren Streifzügen zurückgekommen waren, schütteten wir die Beute in eine Mulde, die wir uns aus einem Sandhaufen schaufelten, der im Hof gleich neben einer Glaserei extra für uns Kinder aufgeschüttet worden war. Und hier fing er schon an, dieser Drang, sich messen zu wollen. Wir wollten wissen, wer die meisten Käfer gesammelt hatte. Also gruben wir jede ihre eigene Vertiefung in den Sand. Kaum hatten wir die Tiere hineingelegt, krabbelten sie die Schräge nach oben, und wir stießen sie beharrlich wieder zurück, was das Zählen erschwerte.

Als wir am Abend nachhause trotteten, dachten wir nicht mehr an sie. Und am nächsten Morgen, als wir nach ihnen schauten, hatten sie natürlich schon längst über alle Sandhaufen hinweg das Weite gefunden. Also machten wir uns erneut auf die Suche nach den brummigen Vierbeinern. Doch es wiederholte sich das gleiche Spiel: Am späten Nachmittag kamen wir zurück, gruben zwei Mulden und schütteten unsere Beute darin aus. Wieder versuchten die Käfer, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, und wieder stießen wir sie zurück. Bald wurde uns das Spiel langweilig. Auch mich interessierte es längst nicht mehr, wer von uns die meisten Käfer gefangen hatte. Inzwischen wollte ich die Tiere einfach nur beobachten. Ihre Fühler über den Augen, die aussahen wie kleine Pinselchen, ihre feingliedrigen Beine, mit denen sie versuchten, sich auf dem Sand Halt zu verschaffen. Manche von ihnen rutschten ab, fielen um und blieben eine Weile wild vor sich hinfuchtelnd auf dem Rücken liegen. Wenn sie es allein nicht schafften, wieder auf die Beine zu kommen, half ich mit einem Stöckchen nach.

Meine Spielgefährtin war schon längst gegangen, die Dämmerung brach langsam herein. Da kam ich auf die Idee, einfach eine der Glasscheiben, die an der Hauswand der Glaserei lehnten, so über meine Mulde zu legen, dass für die Käfer sämtliche Fluchtmöglichkeiten versperrt waren. Die Idee fand ich großartig. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Nun konnte ich meine Käfer nach Lust und Laune betrachten und mich an ihnen erfreuen. Aber ich hatte dabei auch ein mulmiges Gefühl. Das Schneewittchen fiel mir ein, wie es in seiner ganzen Schönheit im gläsernen Sarg gelegen hatte. Angeblich war es gestorben, denn es rührte sich nicht mehr, aber am darauffolgenden Tag schlug es ja trotzdem wieder die Augen auf.

Ich erinnere mich: Ich war ganz allein. Meine Maikäfer unter der Glasscheibe schienen mir schon etwas müde geworden. Wie schwerfällig sie vor sich hin taumelten. Wahrscheinlich würden sie bald schlafen müssen, sagte ich mir, denn auch mir fielen allmählich die Augen zu. Also verabschiedete ich mich von ihnen, mit dem guten Gefühl, sie in Sicherheit zurückzulassen. Sie würden mir nicht weglaufen können, dessen war ich gewiss. Und so war es ja auch: Am nächsten Morgen waren sie noch alle da, aber sie rührten sich nicht mehr. Ob ich begriff, dass ich sie getötet hatte, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich von da an keine Maikäfer mehr gesammelt. Und wenn es heute heißt, sie seien ausgestorben, dann denke ich, dass ich einen großen Teil Schuld daran habe. Wegen meiner verfluchten Sammelwut, die ich noch immer nicht losgeworden bin.

Denn ich sammle noch immer, aber andere Dinge eben. Heute sind es vor allem Texte, Gedanken, die ich zu Sätzen forme. Ich baue, ich konstruiere etwas mit Worten. Ich setze einen Gedanken auf den anderen und baue mir so mein eigenes Haus, in dem ich mich sicherer fühle. So haben vielleicht alle, die sammeln, das Bedürfnis, sich selbst auf diese Weise zu stabilisieren, sich einen Halt zu geben, in dieser so flatterhaften und flüchtigen Zeit.

Und vielleicht ist das auch der Grund, weshalb wir fast alle dieser Sammelleidenschaft erliegen, ob wir wollen oder nicht. Wir glauben, uns dadurch Stärke zu verleihen, uns selber zu verdoppeln, zu vervielfältigen, weil wir uns sonst zu schwach fühlen. Die Wenigsten werden das zugeben. Wer offenbart schon gerne, dass er aus Schwäche handelt? Und wie schnell ist es geschehen, dass diese Sammelleidenschaft zu einer Sucht ausartet. Man könnte das zur Kenntnis nehmen, sich damit abfinden und sagen: Dann ist das eben so. Aber mit dieser Sammelsucht ist ja auch das Streben nach Macht verbunden. Und das ist fatal. Doch Moment mal: Wenn ich zehn Hosen statt nur zwei oder drei im Schrank hängen habe, was soll das bitteschön mit Macht zu tun haben? Wenn man aber die Hosen durch Geld ersetzt, sieht man sehr schnell den Bezug. Der Satz gilt nach wie vor: Je mehr, desto besser! Es geht um das Sammeln um jeden Preis. Auf dass die Dinge, die wir sammeln, schlicht und einfach: wachsen mögen. Das ist die Devise.

Dabei wissen wir es doch längst: Das ständige Wachstum kann nicht funktionieren. Wir selbst sind ja schließlich auch - wie in einem Garten - ständig gezwungen, das Wachstum der Pflanzen zu zügeln. Wir rupfen Unkraut, wir schneiden die Pflanzen zurück usw. Und immer ist damit auch unser eigenmächtiger Umgang mit dem verbunden, was in diesem Garten wachsen soll oder nicht. Ziemlich selbstherrlich, könnte man sagen. Wir bestimmen, was wachsen darf und was nicht. Wie auch immer: Es ist tatsächlich der Mensch, der die Zügel in den Händen hält oder letztlich die Schere oder die sonstigen Werkzeuge, um ein ungebremstes Wachstum in Zaum zu halten.

Doch, es geht nicht allein darum, dass der Garten uns einen Ertrag einbringt, der uns beim Überleben hilft. Sein Ertrag liegt nicht nur in den Früchten, die er uns schenkt. Schon im Anblick der Schönheit liegt er und in der Luft. Sinnbildlich steht der Garten für die Natur, und von daher gesehen ist die Sache viel komplexer als man denkt. Schwierig ist sie vor allem deswegen, weil wir auf etwas schauen, zu dem wir gar keine wirkliche Distanz haben können, weil wir de facto viel zu sehr mit dem, was wir betrachten, verbunden sind. Trotzdem tun wir so, als seien wir völlig losgelöst. Und nicht nur das: Wir stellen uns darüber! Wir gebärden uns wie ein Gottwesen, das bestimmen kann über Leben und Sterben, ohne zu realisieren, dass wir selbst Teil dieses Prozesses sind. Wir stecken mitten drin in dem Dilemma: Es geht längst nicht mehr um Schönheit allein (die schicken Kleider im Schrank), oder um Machtdemonstrationen oder Sich-in Szene Setzen, sondern es geht tatsächlich um Leben und Sterben, um unser Überleben schlechthin.

Man wird einwenden: Natürlich ist der Mensch Teil der Natur, das wissen wir doch längst. Der Mensch ist überzeugt davon, zwar ein Teil der Natur zu sein, aber er hat bitteschön die Krone auf. In allen Bereichen ist der Mensch der Capo, er hat die Oberhand. Bis zuletzt wird er das glauben, der Mensch.

Dabei merkt er nicht, dass er längst nicht mehr der Capo ist, sondern nur noch der Körper, mit dem etwas geschieht, ob er will oder nicht.


Hedi [Schulitz]



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