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In der Beständigkeit der Tage | Rezension

"Bis heute bedauere ich, dass ich das Talent zu malen nicht geerbt habe, dass ich zurückgeworfen bin auf ein Alphabet, denn die Bilder sind unmittelbarer in der Produktion und ebenso in der Rezeption. (15)

Mangels einer Alternative für die eigene Seele tut sich Raimund Bahr schon seit Jahrzehnten die Ochsentour des Schreibens an, die Jahreszahlen auf seinen Journalen zeigen marginale Veränderungen an, der aktuelle Band umfasst Texte aus den Jahren 2021/22.
Am besten stellt man sich den Schreibvorgang als Kontinuum vor, wie andere Muskeltraining und Dehnübungen absolvieren. Der Autor absolviert zusätzlich seine regelmäßigen Spaziergänge und formt anschließend seine "Schreibwurst" die er in lesbare und diskutierbare Längen abklemmt.

Als Hauptstränge des reflektierenden Erzählens lassen sich vier Themenstrecken ausmachen:
- das lyrische Ich im Sog der Jahreszeiten
- Lesen und Schreiben im öffentlichen und intimen Kontext
- die Ausformung der Sprache zur gegenderten Poesie
- das Hinübergleiten der Boomer-Generation in den Ruhestand

Für alle Themenfelder leuchtet als Orientierung die beruhigende Leuchtschrift: In der Beständigkeit der Tage.
Das lyrische Segment ist als Umarmung an die Leser gedacht. Das Ich spaziert wenn möglich in See- und Schilf-Nähe an den Rand der jeweiligen Jahreszeit. Zwischen Winter und Frühjahr etwa bleibt die Zeit tatsächlich stehen, und das Ich räuspert sich für den nächsten saisonalen Impuls. An solchen Tagen gefriert die Witterung zu einem Gefühl der Ausgesetztheit, Wind und Wetter stimulieren und euphorisieren um die Wette. Das Ich beschränkt sich auf kluge, kleine Notizen, um den Gefühlsschwall nicht zu überdehnen.

"Die Welt, wie sie ist, lässt mich am Erzählen verzweifeln. Immer wieder setze ich zu einer Geschichte an." (41)

Der Gedankenstrang vom Lesen und Schreiben handelt mit Experimenten, wie vergangene Texte aus der Erinnerung geholt und für die Gegenwart brauchbar gemacht werden können. Da wird etwa der Goethes Traum von der Wahrheit angesichts von Fakenachrichten relativiert, Kafkas Hintergrundprospekt für seine angeschlagenen Helden stellt sich als Naturverweigerung heraus, eine passabler Entwurf für eine schöne literarisierte Welt entsteht in den Büchnerpreisreden. Der Autor überlegt sich prophylaktisch ein paar Büchnerpreisreden, um darin ein optimistisches Literaturweltbild zu entwerfen.
Die Ausformung der Sprache zur Poesie hält sich naturgemäß an das Sternchen, das beim Gendern zwangsweise entsteht. Der Autor ist vor allem durch seinen Beruf als Pädagoge dazu gezwungen, sich diesem Sprachexperiment einer ganzen Sprachgesellschaft zu stellen.

Als erste Maßnahme schlägt er vor, so gut es geht von Wir, statt von Ich zu reden, der Plural dämpft die Schärfe des gesprochenen Geschlechterdifferenzierens.
Raffiniert ist auch die Überlegung, dass man durch die Sternchen sofort die Textsorte erkennt. Wenn Asteriske im Text herumschwimmen, handelt es sich um einen öffentlichen Text, ist der Text "rein", handelt es sich um etwas Persönliches, wenn nicht gar Intimes.

Das Hinübergleiten der Boomer in den Ruhestand begleitet Raimund Bahr schon seit Jahrzehnten, ist doch sein Haupterlebnis vom Leben, dass immer zu viele um die Wege sind. Und das dürfte sich auch im Ruhestand nicht ändern, den er gleichzeitig anstrebt und verdrängt, weil ja nichts besser wird, wenn "ich nicht mehr lesen muss, sondern kann." (16)
Aus der Boomer-Diskussion ergibt sich auch die Frage, warum wir überhaupt auf der Welt sind. Eine recht melancholische Deutung lautet: "Weil die Eltern ihre Einsamkeit an die Kinder weitergeben wollen." (89)

Zu glauben, in der Beständigkeit der Tage sei nichts los, ist natürlich ein Irrtum. Im Gegenteil, das Laute ist kontinuierlich im Vormarsch und trifft mit der Zeit das entlegenste Individuum. Ein Autor etwa schreibt an den Verleger, dass er seine Texte nur mehr in die Tasten hämmere, da hält Raimund Bahr inne und überlegt, ob er nicht als Verleger noch leiser sein muss.
Der sogenannte Literaturbetrieb poppt regelmäßig auf und pfuscht ins Denk-Geschäft hinein, und auch bei den Spaziergängen am See ist die Gefahr groß, dass die Fußstapfen plötzlich busy werden und im Moor verschwinden: Es bleibt ein persönlicher Schöpfungsbericht.

"Sich erinnern, am siebten Tag. Sieben Tage noch, in dieser Zeit erschaffen andere Welten, erschaffen Himmel und Erde und alles Getier, und in sieben Tagen verwüsten Armeen weite Landstriche einer einst blühenden Nation." (115)

Helmuth [Schönauer] | Zum [Buch]

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